Besonnte   Vergangenheit
 
 
 
   
Erzählt  von
Erhard Sommerbrodt
Oberstleutnant a.D.
geb. am 28.12.1867 in Breslau, gest. am 28.8.1956 in Wiesbaden 
 
 
 
 
Der Becher köstlichen Lebens geht langsam zur Neige!
 
 
Sagten es nicht die Jahreszahlen, so deuten es kleine Schwankungen an im sonst so guten Befinden.
 
Klopft das Alter leise an? Sind es Abnutzungserscheinungen, die nach den Sorgen und Aufregungen der letzten dreizehn Jahre ein gutes Recht hätten merkbar zu werden?
Mir ist es immer gut ergangen. Ein gütiges Geschick stand über mir. Beglückende Sonne schien auch durch Wolken auf mich.
 
Aus schönster Zeit im Elternhaus kam ich in mir zusagende, erfolgreiche militärische Berufstätigkeit und fand alles erträumte und erhoffte Glück in der innigen Gemeinschaft mit der besten Frau und den herzensguten Kindern.
 
Im Weltkrieg konnte ich in Kommandeurstellung, an den entscheidenden Fronten im Westen und Osten meine Truppen von Sieg zu Sieg führen, die mir treu ergeben war und es auch in und nach den Revolutionstagen, bis heute, geblieben ist.
 
Was mich erfüllte und was mich bewegte, möge noch einmal wiederkehren.
 
Erinnerung bringe die teuren, geliebten Menschen zurück, die in der Reihe der Eltern und Voreltern vor mir waren. Sie sollen uns nahe bleiben - auch in späteren Generationen. Ihr geistiges Erbe ist dann bewusst empfangener Segen.
 
 
 
Erhard Sommerbrodt, Wiesbaden, im Herbst 1937
 

 
 
 
Berichte und Erinnerungen und meine Führung durch unser Familienarchiv. 
 
 
I.   Die Eltern, Geschwister und Vorfahren meiner Mutter
 
II.  Die Eltern, Geschwister und Vorfahren meines Vaters
 
III. Meine Eltern und wir Geschwister
 
 
 
Das Familienarchiv ergänzt die nachfolgenden Aufzeichnungen durch Dokumente, Briefe, Bücher, Bilder, Drucksachen und enthält Angaben über die 1871 ausgestorbene Berliner Vetternlinie.
 
 
 
 
 
Teil I. Die Eltern und Geschwister meiner Mutter  und deren Vorfahren.
 
 
An mein Elternhaus habe ich die liebsten Erinnerungen. Sie knüpfen sich vielfach an den meinen Eltern gehörenden Besitz in Breslau auf der Neuen Taschenstraße Nr.6. Es war ein Familienhaus, unter dessen Dach verwandtschaftliches Verstehen in herzlicher und aufrichtiger Harmonie anzutreffen war. Im Parterre wohnte Großpapa Girardelli, der Vater meiner Mutter, im ersten und halben zweiten meine Eltern, im anderen Teil des zweiten Obergeschosses meine Großtante Luise, die Witwe des Bruders Otto meines Großvaters Heinrich Sommerbrodt und im dritten Stockwerk Großmama Minna Sommerbrodt.
Am liebsten war ich und Bruder Heinz im Parterre beim Großpapa Girardelli. Ihm standen wir schon in unseren jungen Jahren am nächsten. Unsere Besuche bei Großtante Luise und Großmama waren meistens nur Artigkeitsbesuche auf Veranlassung unserer Eltern, wenigstens in unseren Schul- und Jünglingsjahren. Großmama erzählte uns stets nur aus ihrer Vergangenheit und die fromme Tante Luise nur von des Jenseits himmlischen Freuden. Hierfür waren unsere Interessen aber noch nicht erwacht. Großpapa dagegen lebte mit uns ganz in der Gegenwart. Wir konnten ihm von unseren Interessen und kleinen Erlebnissen und Streichen erzählen und er plauderte gern über seine weiten Reisen zu Wasser und zu Lande am Mittelmeer. Eine fremde Welt erschloss sich uns, die wir auch einmal schauen wollten. Und wenn er auf die Pfaffen und Juden zu schimpften kam, da kamen wir uns sehr gehoben und erwachsen vor. Immer war er heiter und aufgeschlossen. In unbeschreiblicher Güte und Herzlichkeit nahm er uns stets bei sich auf.
Und wenn er sich die sonnige Adria und den tiefblauen Himmel seiner schönen italienischen Heimat herbeisehnte oder ein italienisches Lied zu pfeifen begann, dann war das für Heinz die erwünschte Gelegenheit, aus seinem Repertoire italienischer Volkslieder auszupacken und von mir unterstützt, solange zu singen, bis jeder von uns eine blanke Reichsmark, der Einheitstaxe Großpapas, in Händen hielt.
Trotz solcher für uns hohen "Nebeneinnahmen" zum kleinen Taschengeld blieben wir sparsam. Meistens wurde damit der Bestand unseres "Zoologischen Gartens" aufgefüllt, der im Holzschuppen im Hof bei uns angelegt war. Wir hielten uns Karnickel, Meerschweinchen und viele Vogelarten. Auch selbstgefangene Fledermäuse fristeten ihr Dasein bei uns. Den Rest unserer Gesamteinnahmen mussten wir zur Anschaffung von Schulutensilien verwenden und leisteten uns kleine Aufmerksamkeiten zu den Geburtstagen der Eltern oder zu Weihnachten. Wir hatten Ausgabenbücher zu führen, die Mama öfters kontrollierte.
Die Wohnung von Großpapa war behaglich eingerichtet. Die vielen, aus früheren Zeiten noch vorhandenen Möbelstücke bestanden aus schwerem, glatt polierten, sehr schönem gemasertem Mahagoni - oder Nussbaumholz und stammten aus Triest und Wien. Bevor Großpapa als Witwer zu uns auf die Taschenstraße zog, hatte er mit seiner Familie im ersten Stockwerk eines Hauses am Ring Nr.2 gewohnt, das als das höchste, alte Giebelhaus der Stadt Breslau bekannt ist und heute unter Denkmalschutz steht.
Großpapa war Freigeist. Er glaubte nicht an "Heiligenablass und Reliquienschwindel" und hasste die Pfaffen und Juden gleich stark. Religiöse Gespräche oder gar Belehrungen und Bekehrungen, wie solche die fromme Tante Luise an den Sonntagen bei uns einzuflechten versuchte, wies er stets ab. So hatte er, entsprechend seiner weltanschaulichen Einstellung auch nichts einzuwenden gehabt, dass unsere Mutter nach ihrer Verlobung von ihrer katholischen Religion zur evangelischen übertrat, ein Schritt, der durch die immer aufrecht erhalten gewesene, stolze Familientradition der Sommerbrodt geboten war.
Mama hat die Abkehr von ihrem ersten Glauben zwar niemals bereut, hat aber in allen späteren Lebensjahren geklagt, dass die evangelische Kirche allzu prosaisch und nüchtern auf sie einwirke und dass sie, im Gegensatz zur katholischen Kirche sich gar nicht ihrer Mitglieder annähme und ihnen helfe. Den ihre Sinne immer gefangen gehaltenen Eindruck ihrer Firmung im herrlich schönen Stephansdom in Wien und der nachfolgenden ersten Kommunion hat sie bis in ihr hohes Alter bewahrt gehabt. Aber auch Reminiszenzen an die "Gottesmutter Maria als Fürsprecherin und Helferin" sind niemals wieder ganz zu verdrängen gewesen. Als Papa und später Walter bereits bedrohlich erkrankt waren, als ich und Heinz im Felde standen, hat sie im Dom zu Breslau, dann auch in Frankfurt/Main, Maria Kerzen geweiht, damit sie helfen möge.
Es hat sie auch mächtig bewegt, dass in ihren letzten Lebensmonat ein Franziskanerpriester ungerufen bei ihr erschien, um sie vorsorglich in den Schoß der allein selig machenden Kirche wieder zurückzuführen. Beim ersten Besuch dieses als bestrickend liebenswürdig und würdevoll geschilderten Mannes, war Mama zu sehr überrascht und bestürzt gewesen, um ihm überhaupt irgend welche bestimmte Antwort geben zu können. Sie vermochte sich ihm nicht anders zu entziehen, als dass sie ihm sagte, dass sie sich zu nichts entschließen könne. Bei seinem zweiten und letzten Versuch, Mamas Seele zu retten, ließ sie sich durch die einschmeichelnden Worte des Pfaffen aber nicht verwirren. Sie sagte ihm sogleich, dass sie in denjenigen Himmel Wolle, in dem schon ihr Mann sei.
Erfüllt von hoher Befriedigung und Freude über diese schöne Lösung hat Mama mir und Heinz wenige Tage später das alles erzählt In ihrem einsamen, langen Krankheitslager ein sie gewiss sehr bewegender Vorfall.
An allen Sonn- und Feiertagen war Großpapa Girardelli stets, Großmama Sommerbrodt meistens und die Großtante Luise zuweilen Gast der Eltern zum Mittagessen und dann gewöhnlich auch zur Vesper und zum Abend.
Die Unterhaltung wurde dabei stets sehr angeregt geführt, wobei wir zwei Jungen auch nicht zu kurz kamen und uns übergangen fühlen brauchten. Papa, der in der Nationalliberalen Partei aktiv war, liebte gern politische Fragen zu streifen, stets hierbei von der klugen Großmama und von der streitbaren Tante Luise unterstützt. Neuigkeiten in Handel und Industrie, Gespräche und Tageswitze an der Börse in der vorübergegangenen Woche brauchte Großpapa Girardelli mit. Die Ereignisse im damaligen Krieg zwischen Russland und der Türkei wurden eingehend besprochen, wie Vorkommnisse an der total verjudeten Breslauer Universität und das Ergehen das Stadt Schweidnitz und der dort verbliebenen vielen bekannten von Papa und Großmama. Ebenso hörten wir viel über die Triestiner Verwandten und hörten von Wien, wie zauberhaft schön und um wieviel großer es als Breslau sei. Der Prater, die Rotunde, der damals größte Kuppelbau der Wiener Weltausstellung, der Stephansdom - der "Steffel", die Ringstraße und die b
este Konditorei Sacher, mit ihren berühmten Pfannekuchen, den Aprikosenkrapferln, wurden mir und Heinz zu feststehenden Begriffen.
Zum Abendessen fanden wir uns alle im Sommer in unserem Garten wieder zusammen. Wenn in ihm die vielen Rosen blühten, war er besonders schön. Er war zwar nur 60 zu 50 Meter groß, erschien aber viel größer zu sein, weil sich ihm eine lange Reihe fremder Gärten anschloss, die sich bis zur Blumenstraße, also einer Tiefe von rund 400 Metern und in wechselnden Breiten von 100 bis 200 Metern, ausdehnte. Der schöne Blick von den hinteren Zimmern unseres Hauses, gleichsam wie auf einen weiten Park, hatte den Ausschlag gegeben, dass sich die Eltern dieses Grundstück ausgewählt und von Großpapa auch bereits in den ersten Jahren ihrer Ehe erhalten hatten.
Papa war in seinen wenigen freien Stunden fast immer im Garten zu finden. Er war von ihm mit unzähligen Rosenstöcken und immer in Blühte befindlichen Monatsrosen ausgestattet worden. Die Rasenflächen waren mit veredelten Maiglöckchen, den Lieblingsblumen von Mama, umsäumt. Auch einen Steingarten hatten wir, in den u.a. auch verschiedene Alpenblumen gut gediehen, die wir uns jedes Mal aus der Schweiz mitgebracht hatten.
Von den neun Obstbäumen konnten wir fast alle Jahre viele Wäschekörbe bester Birnen und guter, großer Äpfel ernten. In einer der sonnigen Ecken hatte ich und Heinz unseren "Privatgarten" mit Zelt, Sitzgelegenheit, selbstgebauten Springbrunnen und vielen, selbst gepflanzten Blumen darum. Stets nisteten Singvögel bei uns und im wilden Wein das fensterlosen, nachbarlichen Fabrikgebäude für Kunstglasmalerei hausten bei dauerndem Zank und Lärm unzählige Sperlinge.
 
Als die Großeltern Girardelli im Jahre 1865 von Wien nach Breslau übergesiedelt waren, weil sich hier eine weitere Fabrik nach den bereits in Wien und Triest vorhandenen erstehen ließ, hatte ihr Auftreten in der damals vom Fremdenverkehr noch vernachlässigten Provinzhauptstadt beträchtliches Aufsehen erregt. "Fremde Italiener" mit Pferd und Wagen, großzügig auftretend, Frau und Tochter auffallend hübsch - wie mir dieses durch die Jahrzehnte immer wieder erzählt worden ist - das machte sie bald bekannt.
Am 16.Januar 1866 hatten sich die Eltern verlobt und zwar auf demjenigen Teil der Eisbahn auf dem Breslauer Stadtgraben, der zwischen der Neuen Taschenstraße und der Schweidnitzerstraße gelegen ist. Papa war weder Italiener noch Kaufmann und Mama doch erst sechzehn und ein halbes Jahr alt. Großmama hätte für ihre einzige Tochter wohl auch lieber einen katholischen Schwiegersohn haben wollen.
Die elterlichen ersten Bedenken verloren sich aber bald. Das junge Paar hielt fest zusammen und fand taktvolle Unterstützung durch die schon viele Jahre in der Familie der Großeltern aufgenommene Hausdame, Fräulein Kitscher. Ihrer sei besonders gedacht. Durch die Jahrzehnte hat sie uns allen als unsere Wahltante nahe gestanden uns von uns allen viel Liebe und treue Freundschaft empfangen und uns diese aus übervollem Herzen wieder zurückgegeben. Wegen ihrer Biedermeierlöckchen zu beiden Seiten des Scheitels hieß sie bei uns nur die Lockentante. Vor der engen Hausgemeinschaft bei den Großeltern war sie die Hausdame beim verwitweten Oberst von Tiele-Winckler in Miechowitz in Oberschlesien gewesen und hatte dessen Sohn Franz-Hubert, den bekannten späteren Graf von Tiele-Winckler, erzogen. Der Zufall wollte es, dass dieser Landrat in meiner Garnison Neustadt war, als ich dort frohe Leutnantsjahre in selbstständiger Adjutantenstellung verbrachte. Da wir durch unsere gemeinsame Lockentante schon
viel voneinander wussten, bildeten sich sehr bald freundschaftliche Beziehungen zwischen uns heraus. Ich verlebte viele anregende Stunden im kleinen Familienkreis oder auch gelegentlich der Besuche prominenter und amüsanter Männer und deren Frauen aus der Berliner, Wiener und Budapester Gesellschaft im gastfreien Landratshaus. Leider war ich kein Jäger, so dass mir dadurch manche mir sonst zugedachte gewesene Jagdeinladung verloren ging.
 
Von unserer Lockentante ist noch zu erzählen, dass sie sich nach der Hochzeit von Mama in eine freundliche, sonnige, kleine Wohnung auf der großen Feldstraße in Breslau zurückgezogen hat. Dort habe ich sie auf meinem Rückweg vom ihr nahen Johannesgymnasium oft besucht, wenn ich ihr die Tischeinladungen der Eltern für den nächsten Tag überbrachte. Ihre Zimmergenossin war durch alle Jahre eine Nachtigall.
Als Papa eines Tages zu der gütigen, trotz ihrer achtzig Jahre noch sehr rüstig gebliebenen Frau, eilends von den Hausbewohnern gerufen worden war, fand er sie auf ihrem Lehnstuhl sitzend bereits entschlafen vor. Auf ihrem Schoß hielt sie mit friedvollem Gesichtsausdruck das Gebauer, in dem die sonst so zahme Nachtigall ängstlich flatterte. Ihre Standuhr aus der Biedermeierzeit, die vor ihr ihre Eltern besessen hatten, hat sie für Mama bestimmt. Nun steht sie auf meinem Schreibtisch. Der Vater unserer Lockentante, der k. und k. Österreichische General von Kitscher, hatte nach seiner Verabschiedung sich nach Wien zurückgezogen, seine einstige Garnison in jüngeren Jahren.
 
Der zu frühe Tod von Großmama Ida Girardelli in der Blüte ihrer Jahre im Oktober 1866 lastete als tiefer Schatten auf dem überaus glücklich gewesenen Familienleben im großelterlichen Hause. Sie war der Mittelpunkt gewesen.
Am schwersten traf es die beiden jüngeren Brüder von Mama, Ettore und Vittorio. Der deutschen Sprache noch nicht vollkommen mächtig, von einer noch ungebändigten Vitalität größten Ausmaßes und durch den Wechsel von Wien nach Breslau in ihren Leistungen auf der Schule etwas zurückgeblieben, kamen sie zunächst in ein Internat nach Eisenach und später nach Ostrowo bei Filehne in der Provinz Posen. Diese beiden mit Primareife abschließenden Anstalten mögen von Papa gewiss gut ausgesucht gewesen sein - er hatte dorthin auch persönliche Beziehungen - für die erst noch 10 und 8 Jahre alten Knaben erfüllten sie jedoch nicht voll ihren Zweck. Ihr Widerwillen gegen die dort herrschenden, nach preußisch-militärischen Vorbild geformter Geist wurde bei ihnen, die an weichere Umgangsformen gewöhnt waren und die in der Fremde und Einsamkeit sich nach dem Elternhaus zurücksehnten immer größer. Sie saßen zwar ihre Jahre dort ab, dafür hatte sich Papa eingesetzt. Das tiefere deutsche Wesen war ihnen aber fü
r lange Jahre verleidet und verschlossen worden. Ettore litt unter der Strenge und dem Zwang um vieles mehr noch als Vittorio, der weniger differenziert veranlagt war. Der Lichtblick für beide waren die Ferienzeiten, die sie in Breslau bei ihrem Vater und bei uns verbrachten. Mama sorgte in jeder Beziehung für sie und betreute sie zu Haus wie in der Fremde durch alle Jahre wie in mütterlicher Liebe.
Nach Abschluss der Schulzeit traten beide Onkel in die väterliche Fabrik in Triest ein, um sich dort die ersten kaufmännischen und technischen Kenntnisse anzueignen.
Onkel Vittorio ist dann während seines ganzen Lebens in Triest wohnen geblieben, zumal die Fabrik nach dem im November 1887 erfolgten Tode seines Vaters in seinen Alleinbesitz übergegangen war. Die beiden anderen Fabriken in Wien und Breslau hatte Großpapa in den Jahren 1881 und 1882 verkauft. Die Breslauer Spritfabrik ging dadurch in den Besitz der bekannten Ostwerke AG über, die heute im Konzern sind mit den beiden größten und beliebtesten Berliner Brauereien "Zum Schultheiß" und "Patzenhofer", mit börsengängigen Aktienbestand.
"Wer durchhält, der gewinnt!" Eine alte Erfahrung, die sich auch hier wieder bewahrheitet hätte. Onkel Vittorio heiratete im Jahre 1884 Beatrice Gräfin Muratti, die Tochter des Conte di muratti, Besitzer der "Privat und Effekten Bank" in Triest. Aus dieser sehr glücklichen Ehe gingen drei Töchter hervor: Mercedes, Anita und Lily.
Alle Triestiner Verwandten fühlten sich uns allzeit familiär und rassisch sehr nahe stehend und betonten stets unsere Blutszugehörigkeit zu ihnen. Das war bei mir und Heinz auch offensichtlich. Wir glichen Mama; die italienische Rasse war bei uns - am meisten bei mir - dominierend. Walter und mein mit sechs Monaten verstorbener kleiner Bruder Georg dagegen hatten von Papas Seite her in überwiegenden Maße germanischen Typ mit blauen Augen und blondem Haar. Wir verstanden uns mit den Verwandten in Triest immer sehr gut. Der stets rege und herzliche Briefverkehr überbrückte geistig die großen räumlichen Entfernungen. Die wenigen gegenseitigen Besuche hätten sonst dazu nicht ausgereicht.
Onkel Vittorio war ein ausgeprägter Lebensbejaher, groß an Figur, kraftstrotzend, das Bild der Gesundheit, der seine Freude am Dasein sogleich auch seiner Umgebung zu übertragen verstand. Mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen stehend, kaufmännisch nüchtern, einen Vorteil sogleich erkennend, dabei von großer Herzlichkeit und Aufgeschlossenheit, soll er am meisten seiner Mutter geglichen haben. In vorsichtiger Einschätzung uns Auswertung der im Sommer 1914 aufkommenden ersten politischen Trübungen kam er nach Berlin und holte sich seine dort im Depot befindlichen Wertpapiere ab. "Sicher ist sicher!" pflegte er damals zu uns zu sagen, ohne selbst viel mehr als wir von dem heraufziehenden Unheil zu wissen. Unfassbar noch damals für uns, dass das Bestehende sich ändern oder gar schwinden könne. Im Ausland mögen die Hinterhältigkeiten von Englands Einkreisung von Deutschland und auch dem Vernichtungswillen des jüdischen Freimaurertums noch nicht Allgemeingut der Erkenntnis gewesen sein,
fest steht aber, dass politische und wirtschaftliche Beobachtungen allgemeiner Art bereits nachdenklich machen und zur Vorsicht gemahnen mussten. Gerade hierüber und im Zusammenhang mit Onkel Vittorios damaligem Eintreffen in Berlin und Frankfurt/Main habe ich mich eingehend in meiner Denkschrift "Soll und Haben" geäußert. Die ersten Anzeichen des heraufsteigenden Weltkrieges waren auch an mich heraufgetragen gewesen, nur habe ich sie damals nicht verstehen und auch nicht auswerten können.
Onkel Ettore hatte sich nach seiner Lehrzeit in Triest auch noch die väterliche Fabrik in Wien, die Firma Girardelli, Mussatti & Co., kennen gelernt. Da er für den kaufmännischen Beruf aber besondere Interessen nicht aufbrachte, siedelte er zu seinem Vater nach Breslau über. Für Großpapa war das eine große Freude mit viel Aufregung im für ihn einsamen Wochenablauf. Onkel Ettore zog in Großpapas Wohnung; ein weiteres Familienmitglied für unser Haus. Italienisch wurde sogleich wieder beider Umgangssprache, was wiederum auf unsere Eltern auch nicht ohne Einfluss blieb. Aber auch ich und Heinz profitierten hiervon. Wir schärften unser Ohr für den Wohlklang der italienischen Sprache, erfassten den Sinn der gehörten Worte und blieben bald nicht mehr stumm. Die Wiedergabe der zustimmenden oder ablehnenden temperamentvollen Worte oder kurze Sätze machten bald keine Schwierigkeit. In gutem Einfühlungsvermögen und ohne Hemmungen wandten wir sie und den sich rasch erweiternden Vokabelschatz richtig u
nd ebenso temperamentvoll an. Spielend hätten wir die italienische Sprache beherrschen lernen können, wenn Mama öfters in ihrer Muttersprache mit uns gesprochen oder mit uns Bücher gelesen hätte. Sie widersetzte sich aber immer wieder unseren bitten, weil, wie sie stets einwendete, der Triestiner Dialekt, den sie und Großpapa und Onkel Ettore sprachen, unschön und unrein sei und dieser uns später unzuträglich sein würde.
Onkel Ettore war differenzierter und feinsinniger als Onkel Vittorio. Er hielt sich im Verkehr mit Menschen zuerst meist zurück und ließ sich lieber finden, als dass er andere zu erschließen suchte, eine Gepflogenheit, die übrigens auch mein Bruder Walter zu eigen hatte. Onkel Ettore war eine Künstlernatur mit dichterischer Veranlagung, die in seinen im Jahr 1888 herausgegebenen lyrischen Gedichten sichtbar Ausdruck gefunden hatte. Viele Gedichte in diesen "Jugendklängen" wurden wegen ihres dichterisch wertvollen Gehalts gern von der Kritik anerkannt, manche aber auch wegen sprachlicher Unebenheiten schonungslos zerpflückt. Wenn er sich auch gegen seine Kritiker auflehnte, so versagte seine Schaffensfreude dadurch nicht. In den Tageszeitungen und in Zeitschriften waren öfters zarte, tiefempfundene Gedichte von ihm zu finden.
Im Jahre 1884 heiratete Onkel Ettore Agnes, Martha Peschek, die Tochter eines Subalternbeamten in Breslau. Obwohl sie ihm immer eine musterhaft gute und häuslich tüchtige Frau war, die ganz in seinen Interessen aufging, seine Eigenheiten lustig hinzunehmen und zu lenken verstand, vermochte sie sich bei meinen Eltern nicht voll durchsetzen. Die seltenen Zusammenkünfte gelegentlicher Abendeinladungen reichten niemals aus, um einen gewissen Abstand, der zwischen uns bestand, auszugleichen. Eine Entfremdung zunehmender Art war dadurch unausbleiblich, so sehr Mama in großer Herzlichkeit auch dagegen ankämpfte.
Ich stand Onkel Ettore von Jugend an nahe. Wir verstanden einander gut. Charakterlich und auch äußerlich hatten wir eine gewisse Ähnlichkeit. Oft erhielt ich Beweise seiner Zuneigung, besonders nachdem ich Offizier geworden war. Manche lustige Einladung in gepflegte Breslauer Restaurants verdanke ich ihm wie auch manche mich erfreuende Zuneigung, die stets überraschend in meiner Garnisonstadt Neustadt in Oberschlesien eintraf, z.B. einmal ein brauner, sehr hübscher Dackelhund, oder eine Kiste mit französischem Sekt, oder für die Manöverausrüstung Konserven und Likör. Auch mein Zigarettenetui, im Geschmack der damaligen Mode mit dem Emailbild einer Balletteuse, trägt seine Widmung an mich.
Aus der Ehe von Onkel Ettore sind zwei Töchter hervorgegangen, Rita und Thea.
Rita war von früher Kindheit an immer verschlossen und scheu, zwar weniger ihren Eltern gegenüber als zu allen anderen Menschen. In ihrer Schulzeit war sie gegen ihre Mitschülerinnen direkt ablehnend eingestellt und daher bei diesen unbeliebt und unwillig fügte sie sich der Klassenordnung. An Liebe und Güte hat es seitens ihrer Eltern nicht gefehlt, ihren Charakter umzustellen. Vielleicht sind sie zu nachsichtig gewesen, wie es sich Onkel Ettore später selbst zum Vorwurf gemacht hat.
Rita stand, obgleich nicht ohne musikalische und dichterische Talente ausgestattet, doch weit hinter ihrer jüngeren Schwester Thea zurück, auch in Äußerlichkeiten. Traten beide zusammen in die Erscheinung, so war stets Thea die umworbenere und gefeiertere der Schwestern. Es entstanden Minderwertigkeitskomplexe, die sie nur immer noch vergrämten und ihr das Selbstbewusstsein raubten. Es ist vielleicht anzunehmen gewesen, dass durch eine glückliche Ehe Rita zu sich selbst gefunden hätte.
Ihr schicksalhaftes Unglück war es, dass ihre zu einem bereits verheirateten Mann entbrannte Liebe zu erhofften Ziel nicht hat führen können. Sie hatte diesen in ihrem 25. Lebensjahre im Dresdner Schriftsteller-Club kennengelernt. Da sich der auf beiden Seiten gewünschten ehelichen Verbindung unüberwindliche Schwierigkeiten entgegenstellten, schied sie freiwillig aus dem Leben. Um ihren Entschluss auszuführen, hatte sie sich heimlich aus der elterlichen Villa in Klodsche bei Dresden entfernt und sich nach dem ihr von Reisen bekannte Nürnberg begeben. Von dort erhielten ihre bereits von bangen Sorgen erfassten Eltern die erschütternde Benachrichtigung, dass sie im dortigen "Dutzend-Teich" den Freitod gesucht und gefunden habe.
Thea war in jeder Beziehung ein hochwertiger Mensch. In ihr offenbarte sich, über ihren Vater weit hinausreichend, eine große dichterische Begabung. In gleich hohem Maße war sie musikalisch von einer gütigen Natur ausgestattet worden. Sie komponierte, dichtete und schriftstellerte und brachte tief empfundene, meisterhafte Schöpfungen heraus. Auf dem Konservatorium bis zur Künstlerklasse vollendet ausgebildet, interpretierte sie besonders gern Chopin und Liszt und Beethoven, war aber groß und selbstlos genug, um auch jeden anderen Wunsch dankbarer Zuhörer zu erfüllen. Sie zeichnete aber auch und fertigte Scherenschnitte und konnte Landschaftsbilder als Spiegelbild eigener Stimmungen in Seide so kunstvoll zu sticken, dass sie wie Pastellbilder, in den zartesten Farbtönen gemalt, auf den Beschauer wirkten. Auf den Kunstausstellungen fanden sie stets ihre Käufer. Bald erhielt Thea einen Ruf als Lehrerin an die Kunstakademie Dresdens. Ihre immer liebenswürdig gebliebenen Talente wie ihre nie ve
rsiegende Schaffensfreude kamen dort zur schönsten Entfaltung.
Aber auch sportlich stand sie nicht zurück. Sie leitete nebenher den erstmalig der Kunstakademie angegliederten Unterricht für körperliche Bewegung und Erstarkung für junge Mädchen und Frauen. Bei Thea ergänzten Körper und Seele einander in wundervoller Harmonie. Wie ihre Seele so war auch ihr Körper beschwingter, vollendeter Rhythmus.
Von welchem elterlichen Erb- und Baugut eine solche Fülle ihrer Talente gekommen sein mag, ist ohne weiteres nicht ersichtlich. Der Zweiklang, gebildet aus ihres Vaters idealer, differenzierter Veranlagung und aus der Mutter unverbrauchter Kraft und Frohnatur, hatte wohl die Vorbedingung hierzu geschaffen. Gebettet in einem glücklichen Familienleben, auf immer besonntem Lebenswege dahinschreitend, gelangten die ihr verliehenen Gaben zur vollen Blühte. Die Synthese zwischen romanischem und germanischem Blut war dann der Urquell, der hier sichtbar werdenden, edlen Seele.
Aus Jugend und Anmut und sprudelnder Lebensfreude, aus sie beglückendem Schaffen, aus Anerkennung und Erfolgen nahm sie ein tragischer Tod aus dieser Zeitlichkeit. Eine kleine Verletzung an der Hand, kaum gespürt und nicht beachtet, führte zu einer Blutvergiftung, der sie nach wenigen Tagen, am 11. Dezember 1912 erlag, tief beklagt, nicht allein von den erneut schwer geprüften Eltern, sondern auch von dem großen Kreis ihrer Verehrer ihres mühelos gegebenen hinreißenden, künstlerischen Schaffens als Ausdruck eines abgeklärten, wertvollen Menschen.
Als Zeichen ihrer Dankbarkeit ließ die Kunstakademie ihr über dem Grabe ein Marmordenkmal mit Widmung von ihr errichten. Ein Nachruf auf die Frühvollendete von ihr in einer Dresdner Zeitung lässt sie würdigste, begeisterte Worte auf das finden, was Thea in ihrer Mission als Künstlerin und Verehrungswerteste Persönlichkeit den Mitmenschen und in Sonderheit der Akademie während ihres kurzen Erdenlebens gewesen ist.
 
Nach dem Tode auch dieses Kindes kränkelte Onkel Ettore dahin. Alle seine Hoffnungen waren mit Thea zu Grabe getragen worden. Wie viel Freude für die Eltern musste unerfüllt bleiben! Wie sehr hätte Thea ihrem Eltern im Alter die liebevolle Stütze sein können!
 
Der Verlust seines einst großen Vermögens durch Inflation und noch mehr durch Deflation beschleunigte den körperlichen Verfall. Sein Haus in Breslau, Neue Taschenstr. 21 hatte er auch verkaufen müssen. Er starb zu Beginn seines 68. Lebensjahres an einem Schlaganfall in seiner inzwischen von Klodsche nach Dresden, Hindenburgstrasse 16, verlegten Wohnung.
Auf dem "Inneren kath. Friedhof" hat er neben Thea seine letzte Ruhestätte gefunden.
 
Tante Agnes überlebte ihn noch elf Jahre.
Die kath. Kirche hatte sich ihrer in ihrer Trauer und Einsamkeit helfend und beratend angenommen. Durch deren Vermittelung fand sie im Altersheim "Wettinstift" in Coswig bei Dresden während ihrer letzten Lebensjahre liebevolle Aufnahme. Als materielle Gegengabe hatte Tante Agnes ihre sorgsam gehütete, wertvolle Wohnungseinrichtung der Kirche testamentarisch vorher vermachen müssen.
Tante Agnes starb 10 Tage nach Vollendung ihres 75. Lebensjahres an Altersschwäche.
 
Den Wechsel irdischen Glückes hat sie, wie selten ein Mensch, kennengelernt.
Das Bewusstsein, sehr viel Liebe und Glück besessen zu haben, hat sie in Unglück und Trauer nicht verzagen lassen. Dankbaren Herzens hat sie noch in ihren letzten Tagen hiervon zu erzählen gewusst.
 
Jedem der beiden Brüder von Mama war nach dem Tode von Großpapa ein größerer Anteil des Nachlasses nach italienischem Recht zugefallen als Mama. Ihre anteiliges Tochtervermächtnis betrug daher vierhundertundzwölftausend Mark in Wertpapieren und das ihr bereits im zweiten Jahre ihrer Verheiratung von Großpapa vorausvermachte Haus in Breslau, Neue Taschenstrasse 6.
Onkel Ettore erhielt nur Wertpapiere und Onkel Vittorio die Fabrik in Triest und Wertpapiere in anteiliger Höhe.
 
Meine Eltern übersahen vollständig die pekuniäre Benachteiligung durch die Forderungen des in Italien bräuchlichen Erbrechtes. Die nicht allzu große Benachteiligung trat überhaupt niemals in Erscheinung. Papa hatte aus ärztlicher Praxis, aus seinen Collegs und Veröffentlichungen Ausgleich in reichlichem Umfang. Papa war mit 35 Jahren bereits Professor geworden.
 
Bei seinen Lebzeiten hatte Großpapa den Eltern überdies alle ihren kleinen und großen Wünsche über die regelmäßigen monatlichen Zulagen hinaus erfüllt. Wenn er Sonntags zu uns kam, übergab er oftmals Mama mit einem unbeschreiblich lustig-schelmischen Gesicht ein verschlossenes Couvert, sah die Eltern und uns Jungens der Reihe nach an und pfiff, wenn er besonders gut gelaunt war, wie der oft in unserem Garten zu hörende Vogel Pirol pfeift, nach Abschluss seiner Musterung unserer erwartungsvollen Gesichter. Mama flog darauf stets Großpapa um den Hals und ich und Heinz hielten in richtiger Auswertung des Erlebnisses mit unseren Liebkosungen auch nicht zurück und kauderwelschten dazu italienisch, das, wenn wir nicht gut mehr weiterkamen, in unbeschwerter Phantasie mit lateinischen Vokabeln durchsetzt wurde. Die Superlative spielten in Verherrlichung des Augenblickes eine Hauptrolle. Hierüber wiederum konnte sich Großpapa vor Lachen schütteln. Ich und Heinz aber wussten, dass wir ihn am Tage da
rauf wieder einmal "mit Erfolg" besuchen konnten.
 
Großmama Ida Girardelli entstammte demjenigen Zweig der Familie v. Socher, der im Jahre 1779 bereits in Triest ansässig geworden war. Von Klagenfurt waren sie dorthin über Spittal an der Drau gekommen. Gelegentlich eines nur für kurze Zeit in Neapel geplant gewesenen Aufenthaltes wurde dort Großmama Ida geboren; sie hatte eine Zwillingsschwester, und weitere zwei Brüder und noch eine Schwester. Mama erzählte uns oft von ihrer Mutter. Sie muss von einer sehr großen Herzensgüte gewesen sein. Es war ihr Bedürfnis, anderen eine Freude bereiten zu können. "Wie hätte sie Euch verwöhnt", waren die so oft wiederkehrenden Worte von Mama zu uns. Großmama Ida war von einem heiteren Gemüt, lebhaft, mitteilsam, lebensbejahend, und wie Mama, alles verstehend und daher nachsichtig und in ihrem Urteil vermittelnd. Sie war mittelgroß, etwas korpulent, von bester Gesundheit und hatte Zähne "wie die Perlen". Sie besaß alle guten Eigenschaften der Österreicherin. Den Zauber der Gemütlichkeit und Behaglichkeit
, der von ihr ausging, empfand jeden sogleich, mit dem sie zusammenkam. Den Ihrigen gab sie davon in unerschöpflichem Ausmaß.
 
Umso härter traf alle ihr so früher und tragischer Tod im kleinen schlesischen Badeort Kudowa.
 
Großpapa Girardelli war im Sommer 1866 mit seiner Familie dorthin übergesiedelt; ihn bestimmten hierzu einige Fälle von asiatischer Cholera, die zu dieser Zeit in Breslau aufgetreten waren. Solange Gefahr bestand, wollte er dadurch einer Ansteckung ausweichen. Man wohnte im Kurhaus.
Mitbestimmend für die Wahl diese Kurortes war, dass damals Papa während der Dauer des Krieges 1866 mit Österreich im nahen Schloss Nachod die chirurgische Abteilung des Johanniter-Lazaretts leitete. Schloss und Stadt Kudowa sind in Böhmen wenige Kilometer nur von der Grenze nach Preußen entfernt gelegen. Im Herbst 1909 habe ich vom Bad Kudowa aus das Schlachtfeld von Nachod besucht und das alte, auf einer Anhöhe gelegene Schloss aufgesucht. Der alte, würdige Kastellan, der mich führte, hatte noch deutliche Erinnerungen an seine Tätigkeit auf dem Schloss während jener Kriegszeit und zeigte mir die Säle und Zimmer, die für die Verwundeten hergerichtet gewesen waren, in denen Papa gewirkt hatte. Der Blick von dort auf die Stadt und weit hinaus auf die sonnendurchfluteten, böhmischen Fluren war wunderbar schön. Wie weit zurückliegend erschien es mir zu sein, dass die Eltern mit meinen Großeltern auch dort gewesen! Und doch waren es nur 43 Jahre!
 
An einem warmen Herbsttage damals wollte Großpapa mit seiner gesamten Familie, einschließlich also mit Papa als Bräutigam, den Nachmittagskaffee in einem etwa eine Stunde von Bad Kudowa entfernt liegenden Ausflugsort einnehmen. Alle wanderten zu Fuß dorthin, nur Großmama sollte zu Wagen nachkommen, weil sie sich wegen ihres Bruchleidens zu schonen hatte. Zum Staunen aller erschien sie aber nur wenig später als die anderen auch zu Fuß, überaus erfreut über die geglückte Überraschung. Sogleich beim Niedersetzen an dem Tisch begann sie über plötzlich auftretende, große Schmerzen zu klagen. Ihr Bruch hatte sich eingeklemmt!
 
Trotz aller nur möglichen Hilfe war ihr Leben nicht mehr zu retten gewesen. Auch die beiden aus Breslau und aus Wien telegraphisch herbeigerufenen Chirurgen kamen zu spät.
 
Großmama provisorische Beerdigung fand am 7. Oktober 1866 im Kirchdorf Tscherbeney bei Bad Kudowa statt. Darauf wurde sie in die Familiengruft der Girardelli nach Triest überführt. Diese befindet sich dort auf dem St. Anna-Friedhof.
 
Welch große Veränderung brachen dieser Trauerfall auch für Großpapa mit sich! Wie plötzlich war er vereinsamt! Die beiden Söhne kamen nach Thüringen in Pension und Mama heiratete etwa sechs Monate danach. Die Wohnung am Ring wurde aufgelöst und Großpapa bezog die kleine Parterrewohnung im Haus meiner Eltern, um die einundzwanzig Jahre seiner Zeit als Witwer in ihr zu verbleiben.
 
Im letzten Jahr seines Lebens wurde Großpapa hinfällig und klagte sehr über Müdigkeit. Zwar verbrachte er die Sonntage nach wie vor bei uns, legte sich aber bald nach Tisch, im großen Gegensatz zu früheren Zeiten, stets unter einer kleinen Entschuldigung, schlafen und ließ sich auch nicht dadurch stören, dass wir im Zimmer nebenan vesperten und plauderten. Sein großes Schlafbedürfnis wurde dann nur noch durch sein Abendessen unterbrochen.
 
Zwei Jahre vor seinem Tode hatte Großpapa noch eine Lungenentzündung zu überstehen gehabt. Mit Genugtuung erzählte er stets, dass er seine Rettung nur sich selbst zu verdanken habe. Stärkster Willen, nicht zu sterben, sondern noch weiter zu leben, habe ihn siegreich über die Krise seiner schweren Krankheit hinweggebracht.
 
Medikamente hat er, wie Pfaffen und Juden, niemals geschätzt und hat sich dank seiner guten gesundheitlichen Veranlagung die Ablehnung ärztlicher Hilfe auch gestatten können.
 
Am 5. November 1887 ist Großpapa in seinem 71. Lebensjahr nach vorausgegangenem Gehirnschlag in den Armen von Mama sanft entschlafen.
 
Auch er wurde in der Familiengruft in Triest überführt.
 
Im Spätherbst des Jahres 1890 stand ich dort am Grabe der Großeltern. Papa hätte mich zur Jahresfeier meiner Beförderung zum Offizier nach Oberitalien reisen lassen, obgleich ich bereits im Juli mit den Eltern, wie alljährlich, auf Rigi-First, oberhalb des Vierstädter Sees, oberhalb von Vitznau, gewesen war.
 
Mein Weg hat mich später leider niemals wieder nach Triest geführt, obgleich ich zweimal in seiner Nähe, in Venedig gewesen war. Teils lag das daran, dass ein weiterer Besuch von mir zu den Triestiner Verwandten in Begleitung meiner Eltern geplant war, und dass, als Papa uns vorzeitig genommen war, Mama ihre Reisen mit uns dorthin unternahm, wo Walter für seine Gesundheit am meisten Vorteil haben konnte. So suchten wir erst die Ost- und Nordseebäder auf, dann später Berchtesgaden, Kissingen, die Dolomiten, das Berner Oberland und das Engadin. Wenn ich aber aus dienstlichen Gründen meine Urlaubszeit nicht mit Mamas und Walters Sommerreisen in Einklang bringen konnte, entschädigte mich Mama mit einer Reise nach Beendigung des Manövers. Anstatt dann die franz. Riviera aufzusuchen, hätte ich (mit dem Ausgangspunkt Triest) besser bis Rom und Neapel fahren sollen. Wenn ich das aber damals nicht getan habe, so allein deswegen, weil ich mich nicht genügend gut für Rom vorbereitet hielt, trotz manc
her Vorstudien bereits, das ewige Rom, die Stadt humanistischer, klassischer Bildungseindrücke, selbst zu schauen. Ich ahnte es damals ja nicht, dass alljährliches Reisen einmal nicht mehr zu den selbstverständlichen Lebensgewohnheiten für mich, und die Meinigen, werden könnte. Ich glaube, dass mir Triest niemals entgehen und dass ich meine Verwandten dort oft wiedersehen würde, die es mit mir so herzlich gut meinten. Sie hatten sogar für mich bereits eine Braut gewusst.
 
Es ist gut, dass die bella signorina nicht auf mich gewartet hat!
 
Mama hat in ihrem 70. Lebensjahr (1919) zusammen mit Walter noch einmal ihre geliebte Vaterstadt, die Stadt ihrer ersten Jugendeindrücke, aufgesucht und nach langer Pause alle ihre Verwandten dort wiedergesehen. Sie hat von diesem sie sehr beglückenden Erlebnis bis in ihre letzten Wochen gezehrt. Sie erinnerte sich überhaupt bis zuletzt in einer wundervollen Frische an längst vergangene Begebenheiten. So erzählte sie mir einmal, noch Ende 1928, wie die Tafel bei ihrer Hochzeit in der Breslauer Alten Börse geschmückt gewesen sei, wer Tischreden gehalten habe und wie sie Tischordnung aussah. Ich habe mir schnell Papier und Feder geholt und alles wörtlich mitgeschrieben, was Mama mir hierüber zu erzählen wusste und halte es im Familienarchiv verwahrt.
 
Von Mama habe ich auch meine Kenntnisse über ihre Großeltern, meine Urgroßeltern, empfangen. Ich hätte gewiss von Großpapa auch vieles über sie erfahren können, wenn mein Interesse für die älteren Generationen in meinen jüngeren Jahren nicht noch geschlummert hätte. Trotzdem profitierte ich manches von dem, was Onkel Ettore und Papa aus an Ort und Stelle angestellten Forschungen über sie zu erzählen wussten.
 
Mein Urgroßvater Antonio Girardelli wurde im Jahre in dem Kirchdorf Valle St. Felice, nördlich des Gardasees, im Trentino Oberitaliens geboren.
 
Schon seine Eltern und Voreltern besaßen in "ununterbrochener Erbfolge", "seit undenklichen" Zeiten einen Bauernhof mit Äckern.
 
Mein Urgroßvater Antonio, der Jüngste von 7 oder 8 Geschwistern wanderte im achtzehnten Lebensjahre, also um 1800 nach Triest aus. Er besaß eine unbändige Unternehmungslust und Arbeitskraft und einen eisernen, unbeugsamen Willen, kaufmännisch voran zu kommen. Er nannte sich stets gern und mit Stolz "Bauernjunge". Unverbrauchtes, gesundes Blut strebte ehrgeizig nach besonderer Betätigung.
 
Mit geringen, ihm anfänglich zur Verfügung gestellten Mitteln und aus Ersparnissen aus seiner bald erlangten Vertrauensstellung in einer Spritfabrik beteiligte er sich bereits mit dreißig Jahren an diesem Unternehmen.
 
Darauf gründete er in Triest eine eigene Sprit- und auch darauf eine Teigwarenfabrik und kam bereits in seinen mittleren Jahren zu Wohlstand. Zwei eigene Schiffe von ihm befuhren das Mittelmeer, und sicherten ihm auch im Ausland einen großen Absatz seiner Waren. Einem seiner Geschäftsfreunde auf der Insel Zypern verdankten meine Eltern es noch in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, dass alljährlich um die Weihnachtszeit, und auch bei Großpapa Girardelli, ein Fässchen köstlich süßen Zypernweines eintraf.
 
Urgroßpapa Nono, wie er anstatt Antonio von den Seinigen genannt wurde, war von Gestalt mittelgroß und gedrungen. Er legte bi in sein höchstes Lebensalter größten Wert auf Anzug, Toilette und auf eine sehr gepflegte Küche. Grundsätzlich ging er mit Gehrock, Zylinderhut und Stock mit silbernem Griff spazieren. Er besaß einen eigenen Wagen und Pferde und fuhr darin alle Jahre einmal nach Karlsbad oder nach Baden bei Wien. Seine Gesundheit war eisenhart. Niemals hat ihn jemand bettlägerig oder wirklich krank gesehen. Von den Seinigen ist seine ständige Gewohnheit immer von neuem bestaunt worden, sich nach seinen Spaziergängen dadurch abzukühlen, dass er Fenster und Türen öffnete und sich bei ausgezogenem Überrock dahin setzte, wo die Zugluft am stärksten war. Dazu liebte er Rotwein zu trinken. Tabak aber soll er stets verschmäht haben.
 
Zur Feier seines achtzigsten Geburtstages schenkte es seinem Heimatdorf St. Felice eine Kapelle, die mit der Pfarrkirche " einen Körper bildet. Am Eingang zur Kapelle wie am Altar steht auch heute noch sein Namen als Stifter in Marmor eingemeißelt und darüber befindet sich das Familienwappen der Girardelli. Nach dem Bericht des dortigen Pfarrers ist es ein Adelswappen, was auch der Familientradition entspricht, dahingehend, dass die Vorfahren das Adelsprädikat besessen haben. Leider ist durch meine Forschungen genaueres hierüber nicht mehr festzustellen gewesen, weil im ersten Weltkrieg St. Felice im Frontbereich gelegen war und dadurch das Pfarrhaus und ein großer Teil der Häuser und mit ihnen die Kirchenbücher durch Feuer vernichtet worden sind. Aus diesen hatte aber Papa bereits im Jahre 1873 feststellen können, dass die Familie Girardelli bis im Jahr 1460 nachweisbar in St. Felice angesessen gewesen ist. Der jetzt dort amtierende Pfarrer Tranquillini hat mir mitgeteilt, dass die Girard
elli "seit urdenklichen Zeiten" in St. Felice gelebt haben, wie solches aus Grabinschriften zu ersehen sei.
 
Von meiner Urgroßmutter Abdreana, Giovanna Girardelli, geb. Toso, ist zu berichten, dass sie einer Kaufmannsfamilie entstammte, deren Mitglieder alle, wie sie selbst, sehr groß und schlank gewesen sind.
 
Da die Girardelli von Figur nur mittelgroß und untersetzt stet gewesen sind, so ist anzunehmen, dass die beiden Brüder von Mama ihre gesteigerte Größe von ihrer Großmutter Andreana als Erbgut erhalten hatten.
 
Ganz offensichtlich setzt sich bei dem einen der Brüder meiner Mutter, bei meinem Onkel Vittorio, die überdurchschnittliche Größe seiner Großmutter Andreana und nochmals bei zweien seiner Töchter durch, zumal deren Mutter klein, zierlich und schlank war.
 
Eine dieser Töchter gleicht aber in Aussehen und Figur auffallend unserem Helmut. Bei ihm ist seine blutsmässige Zugehörigkeit zur romanischen Rasse dominierend in die Erscheinung getreten. Wahrscheinlich wirkte auch bei ihm nochmals das Toso´sche Erbgut nach und setzte sich in einer gesteigerten Körpergröße nachmals durch.
 
Bei unserem Hans jedoch, der Helmut zwar noch überragt, und der rassisch von Kindheit an mit seinen goldblonden Locken und blauen Augen reinsten germanischen Typ zeigt, hat sich des Erbgut der Moritz-Eichborn durchgesetzt, also die überragende Größe seines Urgroßvaters Moritz-Eichborn.
 
Der Stammbaum der Familie Girardelli
Zusammenfassende und ergänzende Betrachtungen
 
In ungebrochener Kraft, auf eigenem Grund und Boden angesessen und mit ihm aufs engste verbunden, leben seit Jahrhunderten seit 1460 die Vorfahren meines Urgroßvaters Antonio Girardelli in St. Felice, im Trentino, nördlich des Garda-Sees.
 
Zur Feier seines 80. Geburtstages, im Jahre 1862, stiftete mein Urgroßvater , er lebte 1782 bis 1867, der Kirche seines Heimatdorfes den sie vergrößerten Anbau einer Kapelle.
 
Über dem Eingang zu dieser ist sein Namen und Wappen in Marmor gemeißelt und heute noch erhalten. Es ist ein Adelswappen, was auch der Familientradition entspricht, dass die Girardelli ursprünglich mit dem Adelsprädikat größeren Landbesitz gehabt haben sollen. In welchem Jahre der Adel abgelegt worden ist und welches die nähren Gründe hierfür waren, ist nicht bisher zu ermitteln gewesen. Durch die politischen Verhältnisse seit dem Jahr 1914 kamen die Forschungen wenig voran und bleiben einer späteren Zeit vorbehalten. Meine Kusine Lily Machlig, geb. Girardelli, Triest XI., Via Genova 14, ist zu jeder Mithilfe immer bereit.
 
Die Vitalität meines Urgroßvaters hat sich nicht allein nur in der Erreichung seines hohen Lebensalters von 85 Jahren gezeigt. Sein Schaffensdrang trieb ihn aus den für ihn zu eng gewordenen ländlichen Verhältnissen im Elternhaus schon in jungen Jahren hinaus. Den Beruf zum Kaufherrn in sich fühlend, kommt er bereits in mittleren Jahren durch eiserne Energie und Intelligenz zu großem Erfolg und Besitz.
 
Er heiratete Andreana Toso, die einer angesehenen Triestiner Kaufmannsfamilie entstammt.
 
Die 3 aus dieser Ehe hervorgegangenen Söhne, Carlo, Eugenio und Giuseppe (Joseph) werden gleichfalls Kaufherrn und Mitteilhaber des väterlichen Fabrikunternehmens.
 
Der tüchtigste von Ihnen ist der jüngste Sohn, mein Großvater Giuseppe Girardelli.
 
Er lässt sich seinen Anteil auszahlen und erbaut sich zwei neue Fabriken, je eine in Wien und die andere in Breslau etwa 10 Jahre später, der alten Handelsstrasse folgend, die die Adria mit der Ostsee verbindet.
 
Er heiratet Ida v. Socher, die dem Kärnthner Zweig der Familie v. Socher entstammt und deren Mitglieder als Erb- und Gerichtsherren in und bei Klagenfurt angesessen waren. Um 1700 siedeln ihre Voreltern erst nach Spittal an der Drau und darauf 1779 nach Trieste über, wo ihr Vater sich als Leiter eines großen Exporthauses kaufmännisch betätigt hat.
 
Aus dieser Ehe gehen eine Tochter Ida und 2 Söhne Ettore und Vittorio hervor.
 
Ida Girardelli heiratet 1867 meinen Vater Julius Sommerbrodt.
Ihr Bruder Ettore ist eine Künstlernatur, dagegen zeigt Vittorio eine erbbedingte, große kaufmännische Veranlagung.
 
 
 
 
TEIL II.  Die Eltern und Geschwister meines Vaters und dessen Vorfahren.
 
 
1807 - 1872
 
Mit meinem Großvater Heinrich Sommerbrodt verbindet sich meine frühste Erinnerung überhaupt. Er war Ende Dezember das Jahres 1871 von Schweidnitz nach Breslau herübergekommen, um an der Freude meiner Eltern über die Geburt ihres zweiten Stammhalters teilzunehmen und um diesen seinen Enkelsohn Heinrich, unseren Heinz, kennen zu lernen.
 
Es ist mir seitdem immer plastisch deutlich geblieben, wie Großpapa mir an seiner auf meiner rechten Fingerspitze gestellten Zigarrentasche versinnbildlicht hat, um welches Maß ich noch zu wachsen hätte, um die Türklinke erfassen und ohne fremde Hilfe das Zimmer verlassen zu können.
 
Niemals mehr habe ich die ganze Situation für mich vergessen, wie ich an einer bestimmten Esszimmertür vor ihm gestanden habe. Seine Figur, ja der Klang seiner Stimme, ist niemals mehr, bis heute, aus meinem Gedächtnis ausgelöscht worden. Ich habe Großpapa nur das eine Mal gesehen.
Vier Wochen darauf war er aus anscheinend bester Gesundheit heraus einem Schlaganfall erlegen.
 
Um meine persönlichen Eindruck herum sind dann die vielen Erzählungen über Großpapa seitens meiner Eltern oder durch Großmama Sommerbrodt oder durch seine in Breslau lebenden beiden Brüder, meine Großonkel Otto und Julius, in allen weiteren Lebensaltern von mir erstaunlich gut haften geblieben. Sein großes Bild über meines Vaters Schreibtisch belebten meine mir vermittelten Eindrücke über ihn stets von neuem.
 
Alle Geschwister meines Großvaters besaßen wie er selbst als köstliches Erbteil ihrer Mutter Julie, geb. Treutler, jene echte und wahre Herzensgüte, die jeden sogleich erreicht und die jeden erwärmt und beglückt. Nach Ansicht meiner Eltern war sie der Schlüssel neben den sonst vorhanden gewesenen guten Charaktereigenschaften, neben Klugheit und Wissen zu den Erfolgen, die Großpapa und seine Brüder gehabt und die sie glücklich werden ließen.
 
Großpapa Heinrich wurde am 1. April 1807 als zweitältester Sohn des Königlichen Hofrats Heinrich, Friedrich, Wilhelm Sommerbrodt - Letochleb in Gross-Glogau a.d. Oder geboren.
Nach bestandenem Abiturientenexamen studierte er in Leipzig anfänglich Chemie, darauf aber Pharmakologie, um den Apothekerberuf zu ergreifen. Seine praktische Lehrzeit begann er in der Mohrenapotheke in Breslau am Markt. Die Wahl des Ortes Breslau war dadurch gegeben, dass sein Vater inzwischen an das Oberlandesgericht Breslau versetzt worden war und die beiden Brüder Otto und Julius dort verheiratet waren. Otto Sommerbrodt war Appellationsgerichts-Präsident, Julius Sommerbrodt Geheimer Regierungs- und Provinzialschulrat.
 
Nach abgeschlossener Ausbildung im Jahre 1830 legte er in Berlin Anfang September j. Js. Seine Staatsprüfung mit dem Prädikat "sehr gut" ab.
Ein Jahr vor seiner Verheiratung mit Minna Luise Herzog, Tochter des verst. Gymnasialdirektors Herzog in Löbau i. Sa. Kaufte er sich Mitte 1837 die Apotheke "Zum goldenen Adler" nebst zugehörigem großem Grundstück am Marktplatz in Schweidnitz.
 
Schweidnitz wurde ihm zur zweiten Heimat. Was ihm diese Stadt gewesen ist, welchen Einfluss er auf deren Entwickelung gehabt und wie sehr sie es ihm gedankt hat, spiegeln die vielfachen Ehrungen wieder, die ihm zuteil geworden sind.
Er gehörte dem Vorstand des evangelischen Kirchekollegiums, den Gymnasial- und des Gewerbeschulkollegiums an und war zweimal in den Provinziallandtag gewählt worden.
 
Als im Revolutionsjahr 1848 auch in Schweidnitz sich die Wogen zu überschlagen drohten, hatte Großpapa die erregte Bürgerschaft durch sein persönliches Erscheinen noch im letzten Augenblick zur Besonnenheit und zum Zurückweichen veranlassen gewusst. Als der dritte Trommelwirbel und die letzte Aufforderung der militärischen Gewalt an die Bürgerschaft bereits vergeblich verklungen war, also unmittelbar vor dem Kommando zur Feuergabe, sprang Großpapa vor und vermochte durch die Autorität seiner Persönlichkeit, mit weithin schallender Stimme, die sonst unvermeidlich gewesenen Blutopfer zu verhüten. Erst auf sein Erscheinen wichen die erregten Demonstranten zurück.
 
Politisch bekannte sich Großpapa zum Geist und zu den Zielen der in der Paulskirche in Frankfurt/M. zusammengekommenen Männer und zu deren Idealen.
 
Am Tage seines fünfundzwanzigjährigen Jubiläums als Stadtverordneten-Vorsteher, am 14. Juli 1867, ehrten ihn seine Mitbürger durch Errichtung einer Heinrich Sommerbrodt-Stiftung aus deren Zinsen "immerwährend und alljährlich" zwei der Gabe würdige Mitbürger je einen Betrag erhalten sollten. Ferner ließ die Stadt ein Ölbild von ihm anfertigen, bestimmt dazu, im großen Saal des Rathauses, in dem alle Sitzungen stattfanden, seinen Platz zu finden.
Dort ziert es auch heute noch den Raum. Auf dem Rahmen befindet sich eine Bronzetafel mit folgender Inschrift:
 
Heinrich Sommerbrodt
Apothekenbesitzer; mehr als 30 Jahre
Stadtverordneten Vorsteher; Mitglied
Des Provinziallandtages; Mitglied des
Evangelischen Kirchenkollegiums,
geb. 1. April 1807 - gest. 30. Januar 1872
 
Ferner erhielt Großpapa an seinem Jubiläumstage zum persönlichen Gebrauch "aus Verehrung und Dankbarkeit" vom Magistrat und Stadtverordneten Kollegium ein silbernes Schreibzeug, nach dem Bedarf der damaligen Zeit ausgestattet mit Tinten- und Streusandfass und Klingel. Es steht auf einem silbernen Tablett mit Widmung und Stadtwappen.
 
Aus Anlass des Ordensfestes, am 18. Januar 1868, bekam Großpapa den Roten Adlerorden IV. Klasse vom König von Preußen verliehen.
 
Großpapa starb plötzlich und unerwartet aus scheinbar nach bester Gesundheit mitten aus rüstigstem Wirken in seinem 64. Lebensjahre. Als er nach einer Sitzung, die er geleitet hatte, mit anschließendem Herrenessen in sein Haus zurückgekehrt war und die ersten Stufen der zu seiner Wohnung hinaufführenden Treppe erreicht hatte, erlag er einem sofort tätlichen Herzschlage.
 
Großmama hatte ihn, wie stets, trotz später Abendstunde erwartet, hatte ihn die Haustür öffnen und auch noch abschließen gehört. Als er dann nach einer Weile aber oben nicht eintraf, ging sie mit einer Kerze ihm entgegen, noch immer ohne Beunruhigung oder ohne böse Vorahnung.
 
Umso schrecklicher war für sie das unvermittelte Erkennen von dem, was geschehen war.
 
Die Erregung und Mittrauer war in der ganzen Stadt ungeheuer groß. Sein Verlust war für alle unersetzlich, für immer für seine Familie und für eine sehr lange Zeit auch für die Stadt, deren Ehrenbürger er hat werden sollen.
 
Das Schweidnitzer Amtsblatt widmete ihm in Nr. 10 vom 7.2.1872 nachstehend im Auszug wiedergegebenen Nekrolog:
 
"Am 17. Juni 1838 bereits wurde H.S. durch das Vertrauen seiner Mitbürger, das er sich schon im ersten Jahre seiner Abwesenheit in Schweidnitz in hohem Grade zu erwerben wusste, zum Stadtverordneten gewählt.
Durch seine Berufstreue im Amt, durch die Tüchtigkeit seiner Gesinnung, steigerte sich das Vertrauen seiner Kollegen bis dahin, dass er von denselben am 14. Juli 1842 zum Vorsteher der Stadtverordneten gewählt und stets bis zum Ende seines Lebens, mithin am 11. Januar 1872 zum dreißigsten Male als solcher wiedergewählt worden ist."
 
18?? - 19??
 
Nach diesem Wendepunkt ihres Lebens siedelte Großmama Ende des Jahres 1872 nach vorherigem Verkauf der Apotheke und des Grundstückes nach Breslau über. Dort wohnten wir und ihre beide Schwager, Otto und Julius. Sie zog von Anbeginn an in unser Haus. Meine Eltern erzeigten ihr alle Liebe, um ihr ihre Vereinsamung und den jähen Wechsel vergessen zu machen und ihre beiden Töchter, Elisabeth und Johanna besuchten sie öfters in den ersten Jahren von Recklingshausen oder von Cordeshagen i. Pomm. Aus, falls sie den Sommer nicht bei ihnen verbracht hatte. Etwa im Jahr 1885 siedelte Tante Elisabeth nach erfolgter Pensionierung ihres Mannes, meines Onkels Ernst v. der Hardt, Oberst z. D., nach Breslau über. Großmama Minna war eine der vielen trefflichen selbstlosen Frauen der Sommerbrodt, die sich ganz in den Dienst der Familie gestellt, ihren Männern und Kindern beste, liebevolle Kameradinnen waren und für als selbstverständlichen Dank niemals aufhörende Liebe empfingen.
 
Die 34 Jahre währende Ehe ,einer Großeltern ist überaus glücklich gewesen; sie war am 17. Mai 1838 geschlossen worden. Großmama ist die schon mit vier Jahren verwaiste Tochter des am 27.4.1825 verstorbenen Direktors des Gymnasiums in Löbau in Sachsen und seiner am 19.11.1826 verstorbenen Ehefrau Luise geborene Lucas.
 
Nach dem so frühen Tod ihrer Eltern nahm die Schwester der Mutter Großmama zu sich, die in Zittau in Sachsen an den reichen Kaufmann, Seiden- und Kämmel verheiratet war.
 
Mit inniger Liebe hat Großmama während ihres ganzen, langen, 88 Jahre währenden Lebens an ihren Pflegeeltern gehangen. Nichts gab es, was Onkel Kämmel nicht auch damals schon besessen hätte, nichts, tatsächlich nichts, was schöner und besser gewesen wäre, als einst bei Onkel Kämmel. Bei jeder nur möglichen Gelegenheit wurde er, der Onkel Kämmel, erwähnt. Der reiche Haushalt in eigener Villa, 2 Wagen mit "edlen Pferden", die zahlreichen Reisen mit Kämmels hatten einen unauslöschlichen Eindruck auf das jugendliche, empfängliche Gemüt unserer Großmutter für immer ausgeübt. Die weitere, größere Welt, die sie zu sehen bekommen hatte, ließ ihre geistigen Anlagen zur vollen Entwickelung gelangen. Sie trug sie als Erbe einer langen Reihe bedeutender Vorfahren in sich. Sie war stolz, von ihnen erzählen und sie in lückenloser Folge bis zum Jahre 1588 nennen zu können. Durch vier Pastoren-Generationen führt sie bis zum "vornehmen Rathsverwandten" der Stadt Naumburg hinauf.
 
Bei ihrer Verheiratung war Großmama zwanzig Jahre alt. Die Trauung fand in Kleinschönau bei Zittau in Sachsen in derselben Kirche statt, in der 24 Jahre vorher ihre Eltern getraut worden waren. Ein Teil ihrer Ausstattung stammt von ihren Pflegeeltern, so auch das inzwischen auf Dorothee nach Stuttgart gekommene Biedermeierzimmer.
 
Als die Frau des im Stadtparlament in Schweidnitz zweithöchsten Mannes hat Großmama ihre Stellung sicherlich sehr gut auszufüllen verstanden. Sie ist dort und auch später bis in ihr hohes Alter immer als eine kluge, für alles interessierte, feinsinnige, lebensbejahende Frau anerkannt worden.
Bei den Zusammenkünften mit anderen schöngeistigen Frauen las man neben den Klassikern auch selbstverfasste Gedichte und führte kleine Theaterstücke auf, in denen Zeit und Personen schelmisch getroffen waren. Man lebte in der Biedermeierzeit. Großmama war dichterisch veranlagt und hat dieses Können sowohl auf meinen Vater wie auf ihre Tochter Elisabeth weitervererbt. Mein Vater gab die dichterische Veranlagung auf mich weiter und ich wiederum auf unseren Erhard.
 
Allzu blaustrümpfig wird aber Großmama nicht gewesen sein. Ihre Koch-, Brat- und Backkünste waren überaus geschätzt und ebenso begehrt wie ihre guten sächsischen Rezepte für Kulinarische Genüsse aller Art. Um ihre Sahnetorten und Bittere-Mandel-Bretzeln rankte sich der Mythos der Unübertreffbarkeit genauso wie um die Knusprigkeit ihrer Gänsebraten.
 
Die Großeltern waren auf ihre drei Kinder sehr stolz. Papa war mühelos als Primus durch das Gymnasium gegangen, hatte so schnell und so gut wie überhaupt möglich seine medicinische Studien in Breslau, Würzburg und Greifswald absolviert und war als flotter Burschenschafter bei den Raczeks, der Ur-Burschenschaft, mit einer beschränkten Eulage ausgekommen.
 
Die beiden Schwestern von Papa verkörperten alle guten weiblichen Eigenschaften, waren tatsächlich bildschön und sind von dem Schlesischen Dichter Holtey als schönste Mädchen Schlesiens besungen worden. Tante Elisabeth wurde die Frau des in Schweidnitz in Garnison stehenden, damaligen Hauptmanns Erbst v. der Hardt. Tanze Johanna heiratete den Rittergutsbesitzer Otto Senglier nach Cordeshagen bei Cöslin in Pommern, den sie bei seiner in Breslau lebenden Mutter Hulda, geb. Barneckow kennen gelernt hatte.
 
Durch die Verlobung meiner Eltern traten zwei von einander grundverschiedene Welten miteinander in Berührung und verbinden, die sich aber von Anfang an nicht nur gefallen, sondern auch verstanden haben. Die Großeltern standen ganz im Bann und Zauber der südländisch ungehemmt gegebenen Liebenswürdigkeit und Offenherzigkeit der großzügig denkenden und handelnden Gegenschwiegereltern, während diese wiederum ehrlichst das ihnen bis dahin unbekannt gebliebene deutsche Honoratioren- und beste Hausfrauentum bewunderten. Die hübsche Mittelstadt Schweidnitz hatte dabei eine besondere Note. So ist ihnen ihr erstes und einmalig gebliebenes Erlebnis im Schweidnitzer, städtischen Recourcengarten unvergessen geblieben, den man nach dem festlichen Verlobungsessen am Nachmittag aufgesucht hatte. Um den Einzug der beiderseitigen Eltern und deren Kinder und des jungen Brautpaares besser sehen zu können, bildeten die sehr interessierten Bürger und Bürgerinnen nicht nur ein mehrreihiges Spalier, sondern hatte
n sogar Tische und Stühle bestiegen, um besser sehen zu können, was unter begeistertem Schwenken von Taschentüchern und einigen Hochrufen ausgiebig vor sich ging. Mama und ihre Eltern hatten bisher eine solche Beachtung ihrer Persönlichkeit weder in Triest noch in Wien noch in Breslau kennen gelernt.
 
Obgleich wir mit Großmama oft zusammenkamen, fühlte ich und Heinz, dass wir in unseren jüngeren Jahren ihr nicht so nahe standen wie die anderen Enkelkinder.
Es mag das wohl dadurch gekommen sein, dass wir vor ihrer Klugheit einen zu großen Respekt hatten, oder dass uns ihre Erzählungen über Schweidnitz und seine Geschichte zunächst nicht allzu sehr interessierten, oder dass sie uns zu eingehend nach unseren Schularbeiten und Klassenresultaten befragte. Wir sahen in ihr wohl die gütige Mutter unseres Vaters, waren uns aber einig, dass es unten im Parterre bei Großpapa ungleich gemütlicher war.
Später änderte sich natürlich unsere Einstellung zu ihr vollkommen, was aber nicht hinderte, dass mir mein erster Theaterbesuch in Verbindung mit Großmama in nicht vollkommen ungeteilter Freude immer in Erinnerung geblieben ist.
 
Es war "Der Freischütz", den mich meine Eltern als erste Oper sehen ließen. Die Vorfreude und Spannung hierauf beeinflusste mich schon Tage vorher. Die Ouvertüre und einige der schönsten Lieder kannte ich durch das häufige, abendliche Klavierspiel von Papa längst bestens und wusste über den Inhalt der Oper Bescheid. Dafür hatte Mama gesorgt. In feierlicher Stimmung fuhren wir, die Eltern, Großmama und ich in unserer "Leibdroschke" ins nahe Stadttheater. Einige peinliche Fragen von Großmama an mich gestellt, zeigten ihr aber, dass mir die letzten Finessen des Textbuches doch nicht vollkommen erschlossen waren. Die etwas spitzige Instruktion traf ebenso mich auch die Eltern und einigermaßen verstimmt betraten wir unsere Loge.
 
In welchem Lebensalter von mir diese "Operneinführung" stattgefunden hatte, weiß ich nicht mehr mit Sicherheit anzugeben: vielleicht war ich 10 oder 11 oder 12 Jahre alt. Doch war es noch in der "guten, alten Zeit" in Breslau, als die Straßenbahn von Pferden gezogen, eingleisig langsam bis zur nächsten Ausweichstelle klingelte und die Leierkastenmänner allwöchentlich an drei Abenden zwei Stunden lang immer dieselben Stücke ihrer Walze in viel zu langsamen Tempo drehten und als die Laternenanzünder erst auf der rechten, dann auf der anderen Straßenseite die Petroleumlampen mit Hilfe ihrer Leiter und eines am Hosenboden entzündeten Phosphor-Schwefel-Zündholzes aufflammen ließen und als nur in den Hauptstrassen dreizackige Gasbrenner bläulich leuchteten, als es noch keine Kanalisation in jedem Hause gab und die monatlichen Ausräumungen der Gruben in den Höfen von 10 Uhr abends an zum Himmel stanken und als gerade der Phonograph, der Vorläufer des Grammophons, in Sondervorführungen am Nachmitt
ag von uns Schuljungens bestaunt, handgekurbelt nur immer die wenigen Worte scharren konnte, dass er aus Amerika-a-a-a-a-a gekommen sei, und als wir die Schularbeiten unter der Petroleum-Hängelampe anfertigen und wir uns ein großes Lob verdienen konnten, wenn wir nicht am Docht geschraubt hatten und somit die Luft klar und Gardinen, Nase und alle Möbelstücke von einer dicken schwarzen Rußschicht verschont geblieben waren, und als die Dienstmädchen die alten Damen noch mit "Madame" anreden mussten und als wir bei 25 Grad Kälte, geschützt durch russische Baschlikmützen, die heruntergeklappt vom Gesicht nur einen kleinen Augenschlitz freiließen, noch bei Dunkelheit früh in die Schule eilten.
Das alles liegt erst etwa 64 Jahre zurück und ich entsinne mich an alles noch zo sehr deutlich und genau.
 
Nach dem vorzeitigen Tod von Papa am 14. August 1893 wurde unser aller Verhältnis zu Großmama ein sehr herzliches. Besonders zwischen ihr und meinem Bruder Walter.
 
Die gemeinsame Trauer führten Mama mit Walter oft zu Großmama hin. Walter, den die ersten schweren, zu tiefst empfundenen Ereignisse krank gemacht hatten, musste etwas abgelenkt werden, was allmählich auch dadurch gelang, dass Großmama sein Interesse für die Sommerbrodt´sche und ihre Herzog´sche Familienchronik zu wecken verstand. Sie zeigte ihm die von ihr treu verwarten Dokumente und Bilder aus der langen Reihe ihrer und unserer Ahnen und erzählte von deren Verdienste in stets gehobenen Stellungen und was sie selbst festgestellt und aufgezeichnet hatte oder was sie aus der Tradition wusste.
 
Obgleich Walter damals erst dreizehn Jahre alt war, fielen ihre Worte auf einen sehr guten Boden und gingen in ihm auf und brachten uns durch seine Familienforschungen den ganz großen Gewinn in späteren Jahren.
 
Während ich und Heinz durch unseren Beruf bereits, durch unsere Tätigkeit in strengen Truppendienst der ersten Jahre, ganz auf eine sehr vitale Gegenwart eingestellt waren und das Zusammensein mit den Kameraden, Rekruten und Pferden uns keine Zeit gab, privaten Interessen nachzugehen, konnten in der Stille des Breslauer Trauerhauses, und fast unter liebevollem weiblichen Einfluss stehend, die guten Anlagen Walters idealeren Dingen zugeführt und für diese interessiert werden. Schließlich hat Walter in seiner Referendarzeit die czechieche Sprache erlernt, um an Ort und Stelle, in Prag und Chrudim in Böhmen, Forschungen über unsere Vorfahren Litochleb anstellen zu können. Allein seinem Verdienst ist es zuzuschreiben, dass wir nicht nur den Stammbaum der Sommerbrodt-Litochleb in aufsteigender, direkter Linie bis 1534 besitzen, sondern auch den Stammbaum der gleichzeitig mit uns 1732 aus Böhmen ausgewanderten Berliner Vetternlinie.
 
Die Freude an diesem seinem Wirken und Schaffen hat Walter niemals mehr verlassen. Erst durch den ersten Weltkrieg und dann durch seine schwere Nierenerkrankung ist er an weiteren Nachforschungen gehindert worden. Er wusste es und hat es auch ausgesprochen, dass ihm, dem erst dreiundvierzigjährigen, wie im "Totentanz" von Holbein, der Tod den Schreibgriffel vorzeitig aus der Hand nehmen würde. Sein Vorhaben, das Wirken der Litochleb auch um die Zeit von 1416 zu schildern. In der einer unserer Vorfahren Bürgermeister von Prag ist, den Vorsitz des "Gerichtes der sechs Herren" führt und als einer der vier bedeutendsten Vertreter der Revolution in Prag um Huss entscheidenden Einfluss auf die ganze Bewegung nimmt. Dieses sein Vorhaben sollte nicht mehr zur Ausführung kommen.
 
Es sei über Großmama Sommerbrodt noch nachgetragen, dass sie einen einzigen, um drei Jahre älteren Bruder, Ernst, besessen hat.
 
Nach dem so frühen Tod der Eltern übernahm eine den Kämmels in Zittau eng befreundete Familie die Pflege und Erziehung von Ernst Herzog. Er kam in die kaufmännische Lehre und brachte es zu der geachteten Stellung eines Prokuristen, hat es aber niemals in seinem Leben verschmerzen können, dass er wegen fehlender Mittel nicht hat Theologie studieren können. Hierzu hatte er sich, wie so viele der Vorfahren von ihm, aus innerster Einstellung berufen gefühlt.
 
Großmama Minna haben wir niemals krank gesehen. Bis in ihr hohes Alter hinein nahm sie an allen Tagesereignissen sehr regen Anteil. In immer zunehmendem Masse setzte sich ihre Güte durch und ihr Interesse an der jungen und jüngsten Generation nach ihr, der sie Urgroßmutter geworden war.
Sie lebte zwar mit Vorliebe der Vergangenheit und korrespondierte auch zuletzt noch in kalligraphisch schönen Schriftzügen mit Ihrigen und den wenigen ihr noch übriggebliebenen Freundinnen, hatte aber doch auch noch ein so reges Interesse an der Gegenwart, dass sie an schönen Tagen von ihrem Fenster aus durch ihr Opernglas die Menschen und Vorgänge auf der Neuen Taschenstrasse stundenlang beobachten konnte.
Großmama war immer eine sehr schöne Frau gewesen und war es auch bis in ihr höchstes Alter geblieben. Sie glaubt in tiefster Überzeugung daran, dass durch den Tod sie mit ihrem über alles geliebten Mann wieder vereint sein wird.
In ihrem achtundachtzigstem Lebensjahre ist sie am 26.6.1906 sanft entschlafen. Sie wurde, wie sie es gewünscht, nach Schweidnitz überführt. Auf dem Kirchhof der Friedenskirche, unweit des Haupteinganges, hat sie neben Großpapa ihre letzte Ruhestätte gefunden.
 
Ahnenfolge der Herzog
 
Johann Herzog
Vornehmer Ratsverwandter und Kammerschreiber in Naumburg a. Saale,
vermählt mit Maria Weise, Tochter des Bürgermeisters Weise in Naumburg, 1588.
 
Magister Johann Herzog
geb. 18. Januar 1615 - gest. 23. Februar 1657
Archidiakonus an der Kreuzkirche in Dresden.
 
Magister Johann-Ernst Herzog
geb. 24. Dezember 1654 - gest. 27. Oktober 1715
Pastor primarius in Zittau i. Sachsen.
 
Magister Friedrich Gottlob Herzog
Geb. 27. Oktober 1689 - gest. 1751
Archidiakonus in Zittau i. Sachsen.
 
Magister Christian August Herzog
Geb. 31 Dezember 1737 - gest. 15. August 1803
Pastor in Ebersbach bei Zittau i. Sachsen.
 
Magister Christian August Herzog
Geb. 31. Dezember 1778 - gest. 27. April 1825
Direktor des Gymnasiums in Löbau i. Sachsen.
 
Minna Luise Herzog
Geb. 20. März 1818 - gest. 26. Juni 1906
Vermählt mit Heinrich Ferdinand Sommerbrodt
Apothekenbesitzer in Schweidnitz,
mehr als 30 Jahre Stadtverordneten Vorsteher,
Mitglied des Provinziallandtages,
geb. 1. April 1807 - gest. 30. Januar 1872.
 
Dr. med. Julius Sommerbrodt
Geb. 28. Februar 1839 - gest. 14. August 1893
Professor an der Universität Breslau,
vermählt mit Ida Girardelli aus triest i. Italien.
 
Erhard Sommerbrodt
Geb. 28. Dezember 1867 - gest.
Regimentskommandeur im ersten Weltkrieg,
Oberstleutnant a.D.,
vermählt mit Marie Agath aus Breslau
geb. 28. April 1883 - gest. 10. Mai 1945
 
Dorothee
Geb. 11. Februar 1903
 
Hans
Geb. 14. Februar 1904
 
Helmut
Geb. 18. Dezember 1911
 
Erhard
Geb. 18. Dezember 1910
Vermählt mit Ilse van Wietersheim
 
Achim
Geb. 3. August 1942
 
Erhard
Geb. 23. September 1943
 
Agahte
Geb. 12. Dezember 1947
 
Die Geschwister meines Großvaters Heinrich Sommerbrodt
 
Die vier Geschwister meines Großvaters waren alle, wie auch er, in Glogau a. Oder geboren.
 
Ich habe nur seinen ältesten Bruder Otto und seinen jüngsten Bruder Julius kennen gelernt, die beide in Breslau lebten. Sein Bruder Louis und seine einzige Schwester Pauline waren nach Berlin übergesiedelt und dort verheiratet.
 
Zunächst war nach Großpapas Tod Großonkel Otto unser Familienoberhaupt. Nach seinem im Mai 1879 erfolgten Tode wurde es Großonkel Julius. In ihm aber erkannten wir nicht allein nur das hochverehrte Oberhaupt, sondern alsbald den überaus geliebten Stellvertreter unseres zu früh abberufenen Großvaters, der ihn um volle einunddreißig Jahre überlebt hat.
 
Während Großonkel Otto nur immer die vollendetste, reinste Güte selbst gewesen war, war dieses zwar Großonkel Julius auch in gleicher Weise. Hinzu kam aber bei ihm der Zauber seiner Ehrfurcht gebietenden Persönlichkeit und das beglückende Empfinden, bei ihm nicht nur sicher geborgen zu sein, sondern liebevoll geführt zu werden und an dem Quell seiner Weisheit und Lebenserfahrungen zu eigenem Nutzen teilnehmen zu können.
 
Es ist zu unterscheiden, was Großonkel Julius mir in jüngeren Jahren und was er mir gewesen ist, nachdem ich ins Leben getreten war.
 
Als Schüler hatten ich und Heinz Hemmungen in seiner Gegenwart. Wir sahen in ihm vornehmlich den hochgestellten Lehrer, den Provinzialschulrat, der unser nicht immer einwandfreies Wissen und Können durchschauen könnte. Wir merkten es ja auch an dem beinahe respektvollen Verhalten, besonders der jüngeren Lehrer uns gegenüber, welche besondere Hochachtung ihm gebühre. Ohne unsere Hemmungen hätten wir auch damals schon viel zärtlicher und aufgeschlossener zu ihm sein müssen; denn gütiger zu uns und interessierter um uns hätte der eigene Großvater nicht sein können. Er wollte uns von Anfang an Freund und Kamerad sein. Und das erkannten wir in jüngeren Jahren nicht vollkommen genug.
Bald aber werden meine Besuche bei ihm und unsere Zusammenkünfte zu meinen liebsten Erinnerungen. Auf manchen, der Schule ferner liegenden Gebieten hatten wir uns ja schon immer gefunden gehabt. So habe ich oft den Zoologischen Garten in der Hoffnung aufgesucht, Großonkel Julius dort anzutreffen. Er besuchte ihn sehr oft. Aus seinen Beobachtungen und Kenntnissen über alle Tiere konnte meine Tierliebe stets Gewinn haben. Obgleich er Musik nicht selbst ausgeübt hat, hörte er sie, besonders Beethoven, sehr gern. Manche Sätze seiner Sonaten, vornehmlich die Adagios und die Variationen, habe ich schon während des Übens ihm dargebracht, weil ich wusste und es gesagt bekam, dass die tiefsten Stellen auch sein Gemüt am tiefsten bewegten.
 
Er war immer, und in jedem Fall immer, der wirklich Gebende, obgleich man in seiner Gegenwart glaubte, ihm selbst bei dem hinreißenden Schwung seiner Beredsamkeit in der Entgegnung auch etwas gegeben zu haben. Selbst auf militärischem Gebiet wusste er Bescheid und selbst hier wurde ich der Empfangende, wenn er militärische Fragen mit politischen verband. Mir ging es genau so wie allen den Menschen, auf die der Strahl seiner Sonne fiel. In seiner Gegenwart fühlte man, geistige Flügel erhalten zu haben.
Und wie groß war bis in sein höchstes Alter hinein seine Lebensfreude und Lebenskraft! "Raste ich - so roste ich" und: "Des Geistes Frucht ist Freude", das waren seine beiden Wahlsprüche immer gewesen. Nach bis zum 85. Lebensjahr unternahm er - ohne Begleitung - meist sechswöchige Reisen nach Rom, Florenz, Modena, Venedig, um an Ort und Stelle Quellenstudium für seine bis zuletzt immer in neuen Auflagen herausgekommenen Werke über seine Lieblingsschriftsteller Lucian und über das "altgriechische Theater" zu machen.
 
Bis zu seinem 84. Lebensjahr nach gehörte er der Wissenschaftlichen Prüfungskommission als deren Direktor an und bis zu seinem 72. Lebensjahre war er der amtierende Schulrat und Geheime Regierungsrat für die Provinz Schlesien.
 
Hohe Ordensauszeichnungen waren ihm verliehen worden, so der Kronen Orden II. Klasse und der Hausorden von Hohenzollern, beides Halsorden.
 
Bei seinem Scheiden erhielt Großonkel Julius als sichtbares Zeichen der Verehrung und des Dankes vom gesamten Lehrerkollegium an den staatlichen Gymnasien Schlesiens Tafelsilber für 18 Personen, das, weil seine Familie erloschen ist, auf unseren Stamm gekommen ist und das einmal unserem Helmut gehören wird.
 
Das reich gesegnete Leben von Großonkel Julius ging in seinem neunzigsten Jahre, friedvoll ausklingend, zu Ende. Ohne Krankheit erwartete er gläubigen Herzens seine irdische Vollendung, bis zuletzt hingebend gepflegt und betreut von seiner einzigen Tochter Erdmuthe während seiner langen, zweiundzwanzig Jahre verbrachten Zeit als Witwer.
 
Als Grabmal hatte er sich ein aufrechtstehendes Kreuz aus weißem Marmor gewünscht neben dem gleichen Kreuz seiner über alles geliebten Frau mit der Inschrift seines Wahlspruches: "Des Geistes Frucht ist die Freude.". Über diesen Bibelspruch hielt auch der Geistliche im Trauerhaus, Klosterstrasse 12, die Trauerrede. Onkel Julius hatte, wie auch sein Vater, der Reformierten Kirche angehört.
An einem kalten, sonnigen Wintertage, am 9. Januar 1903 betteten wir ihn zur letzten Ruhe.
 
Einen sehr schönen Ausdruck für das, was Großonkel Julius seinen Standesgenossen und allen, die ihm beruflich nähertreten durften, gewesen war, hat Geheimrat Förster, der Dekan der Breslauer Universität, in seinem Nekrolog auf ihn gefunden, den er im Jahresbericht für Altertumswissenschaft, Breslau, Band 141, 1904 hat abdrucken lassen, nachdem er zum ersten Male ein Jahr nach Großonkel Julius Tode ihn in der Schlesischen Zeitung hatte erscheinen lassen.
 
Ferner erschien im Jahre 1926 im Furche-Verlag, Berlin, unter dem Titel: "Erinnerungen eines alten Professors an namhafte Zeit- und Lebensgenossen, von Siegfried Göbel", ein aufschlussreicher, sehr interessanter Abriss über das Wirken und Leben von Julius Sommerbrodt.
 
Die Trauerrede des Geistlichen der reform. Gemeinde wie der Nekrolog des Geheimrats Förster befinden sich, wie so viele andere wertvolle Sachen, im Familienarchiv.
 
1820 - 1881
 
Die Lebensgefährtin von Großonkel Julius, Marie, entstammte der damals durch ihre Schriften bekannten und geschätzten Philologenfamilie der Passow. Sie war ihrem Manne geistig gleichwertig und zudem zeichnerisch sehr talentiert. Ihre Schwester war an den Oberlandesgerichtspräsidenten in Mann in Westfalen, den späteren Preußischen Kulturminister Dr. v. Falk verheiratet.
Aus der Ehe von Großonkel Julius waren vier Kinder hervorgegangen, Erdmuthe, Gottwald, Max und Ernst.
 
Max Sommerbrodt war als Oberstabarzt in seinem 50. Lebensjahr in Berlin, unverheiratet, gestorben. Während seiner militärischen Laufbahn stets im Preußischen Gardekorps belassen, war ihm nach Beendigung des Deutsch-Französischen Krieges vom Kriegsministerium aufgetragen worden, für dieses den als Anhang für das Generalstabswerk bestimmten Bericht zu Verfassen: "Über die vorgekommenen Verwundungen und die Ausfälle an Seuchen und an anderen Krankheiten während des Feldzuges 1870/71.". Noch einen weiteren ehrenvollen Auftrag hatte er 1888 vom Preußischen Staate erhalten. Als in Südrussland in bedrohlicher Form die Pest aufgetreten war, war er als Leiter der staatlich dorthin zur Erforschung der Seuche entsandten Kommission bestimmt worden und neun Monate dort tätig gewesen.
 
Ernst Sommerbrodt war Philologe, wie sein Vater. Er war erst Lehrer in Hannover, wo er seine Frau Lilli, geb. Wendte, kennengelernt, und dann Direktor des kgl. Gymnasiums in Lauben in Schlesien. An beiden Wirkungsstätten war er sehr geschätzt und beliebt. Als sichtbarer Beweis hierfür ist auch der Roman zu bewerten, den einer seiner Schüler, der später als Schriftsteller mehrfach hervorgetretene, Oberlandesgerichtspräsident Rudorff unter dem Titel hat erscheinen lassen: "der Untersuchungsrichter und der Prozess der Lotte Grell.", im Verlage von Carl Reissner, Dresden.
Auf meine Anfrage beim Verfasser, was ihn bewogen habe, in seinem Roman eine der Persönlichkeiten unter dem Namen Sommerbrodt auftreten zu lassen, antwortete er mir, dass er seinem hochwertigen, von ihm hochverehrten, einstigen Lehrer auf dem Kaiser Wilhelm Gymnasium in Hannover habe ein Denkmal setzen wollen.
Ernst Sommerbrodt hatte das geistige Erbe seiner Eltern gut verwaltet. Seine Frohnatur hatte er von beiden Seiten, vielleicht aber mehr noch vom Erbgut der Mutter.
Ihr Vater hatte im Jahre 1807 eine köstliche, freie Übersetzung der, stets nebenan im Original abgedruckten, Dichtungen: "Küsse", des römischen, galanten Schriftstellers Jucundus im Buchhandel erscheinen lassen. Der alte Dichterschelm und sein Übersetzer haben an Lebensbejahung und Freude am Leben nichts zu wünschen übrig gelassen. Wer aber, wie Passow, an solchem Stoff solches Behagen hatte und ihn so überquellend mitempfindend und doch so zart zu übertragen und vorzutragen verstand, der muss Liebling von Jedermann, vornehmlich aber der Jugend gewesen sein, ein Jugendlehrer, wie wir ihn uns alle in unserer Jugend auch gewünscht, aber so selten nur gehabt haben.
 
Die Dichtung "Küsse" befindet sich in der Bücherei des Familienarchivs.
 
Nicht minder verehrt, als es Großonkel Julius von uns allen gewesen, war der gleichfalls in Breslau lebende älteste Bruder meines Großvaters, Großonkel Otto Sommerbrodt.
 
Da er nur vierzehn Häuser von uns entfernt wohnte, auf unserer Neuen Taschenstrasse 21, sahen wir ihn und Großtante Luise sehr oft, entweder zur Vesper bei den sonntäglichen Familientreffen bei meinen Eltern oder fast täglich auf der unseren Fenstern gegenüberliegenden Straßenseite, wenn er um die Mittagszeit vom Amt nach Hause kam, vom Appellationsgericht, dessen Präsident er war.
 
Ein nicht endenwollendes gegenseitiges Winken erfreute beide Teile. Obgleich seine Ehe kinderlos geblieben war, war er außerordentlich kinderlieb. Seine Güte und Liebe zu uns war mehr empfangender Art für ihn, während Großonkel Julius auf gleicher Grundlage stehendes Interesse zu uns mehr gebender für ihn gewesen ist. Als Kinder ritten wir auf seinen Knien und als Jungen wünschten wir uns von ihm Obst und Südfrüchte oder mit ihm den Besuch von Jahrmarktsbuden oder der häufig Gastrollen gebenden Affen- und Hundetheater und Abnormitätenkabinetts. Zu allen diesen Veranstaltungen war jedes Mal auch Mama eingeladen, die sich zusammen mit uns, oder wahrscheinlich über uns, herzlichst amüsierte, wie das auch der gute Onkel tat. In etwas älteren Jahren von uns Jungen war er unser dankbarster Zuschauer, wenn wir ihm selbstverfasste "Theaterstücke" aufführten. Die Wolfsschlucht, Hölle, Tod und Teufel erschienen dabei inmitten selbstgefertigter Kulissen bei roter und grüner bengalischer Beleuchtung.
Die Schlussapotheose bestand dann regelmäßig darin, dass Heinz und ich als Räuber oder Teufel, "geschminkt" mit angebranntem Korkpfropfen, durch Sprung durch einen mit rotem Florpapier bespannten Reifen auf der "Bühne" erschienen.
Die Komik, die wir unbewusst boten, war für Onkel Otto ein niemals versiegender Quell von Freude.
 
Als Anima pia ist mir der gütige Mann mein ganzes Leben lang in Erinnerung geblieben.
"Streng und gerecht wie alle Sommerbrodt", so hat Großmama Minna über ihn geurteilt, dabei aber ausschließlich nur an seine hohe, berufliche Tätigkeit denkend. Als Amtsrichter hat er in Landeshut in Schlesien gestanden. Der sehr warme Nachruf einer dortigen Zeitung beweist den hohen Grad der Wertschätzung und Beliebtheit, den er dort besessen hat. Als Auszeichnung besaß er den Kgl. Adler-Orden III. Klasse mit der ihm zusätzlich verliehenen "Schleife" und den Kgl. Kronen-Orden II. Klasse als Halsorden.
 
Großonkel Otto starb in seinem fünfundsiebenzigsten Lebensjahre am 31. Mai 1879, ohne vorher krank gewesen zu sein an einem Schlaganfall, der Todesursache der meisten Mitglieder unserer Familie.
 
Sein Grab ist auf dem Alten Maria-Magdalenen Kirchhof in Breslau gelegen. Als Grabinschrift hat er sich seinen Konfirmationsspruch gewählt: "Sei getreu bis in den Tod, so will ich Dir die Krone des Lebens geben.".
 
Seine Witwe, unsere Großtante Luise, siedelte im Herbst 1879 in unser Haus über. Sie war, wie ihr Mann, grundgütig und tiefreligiös. Ich besuchte sie gern, obgleich mit ihre fast niemals fehlenden Versuche, mich mehr für ihre jenseitige Welt zu interessieren, nicht angenehm waren. Sie schenkte und vermachte mir ausdrücklich verschiedene fromme Bücher, die ich bis heute gut bei mit verwahrt habe.
Als Grabinschrift hatte sie sich keinen Bibelspruch gewählt, sondern nur die folgenden Worte auf dem Grabstein ihres Mannes:
 
"Ihm folgte freudig nach in den Tod nach glücklichster Ehe
Luise Sommerbrodt, geb. Lachel
geb. 19. März 1811
gest. 20. Januar 1885."
 
Von den beiden in Berlin verheiratet gewesenen Geschwistern meines Großvaters sei erwähnt, dass Großonkel Louis Sommerbrodt von Jugend an ein ausgesprochen kaufmännisches Talent besessen hat im Gegensatz zu seinen drei anderen Brüdern als Akademiker.
 
Seine Eltern richteten ihm in Breslau, Albrechtstrasse 13 ein "Buch- und Papiergeschäft mit Druckerei" ein. Nachdem er dieses zu seiner Verlagsanstalt umgestaltet hatte, verkaufte er es und erwarb dafür Ende 1848 das Mustergut Wachau bei Rodeberg in Sachsen. Nach einer Reihe von Jahren tauschte er Wachau in mehrere Häuser in Dresden ein.
Er war zweimal verheiratet gewesen, in zweiter Ehe mit Ernestine Hornauer. Sein aus dieser Ehe hervorgegangener einziger Sohn Paul starb im Alter von 38 Jahren als Apotheker und Besitzer einer chemischen Fabrik in Berlin. Seine einzige, gleichfalls aus dieser Ehe hervorgegangene Tochter Clara heiratet nach Liegnitz den wohlhabenden Kaufmann Krebs. Diese kam meine Eltern jedes Mal besuchen, wenn sie in Breslau zu Besorgungen anwesend war. Wie alle Sommerbrodt war sie auch nur von Figur mittelgroß. Bei großer Aufgeschlossenheit war sie eine Frohnatur von echter Güte und Liebenswürdigkeit. Sie starb 1915 im Alter von 75 Jahren.
 
Über Großonkel Louis Sommerbrodt Anteilnahme an den damaligen Zeitfragen geben Schriftstücke Aufschluss, die in der Breslauer Stadtbibliothek unter der Signatur Ib/905, 1-5, aufbewahrt sind:
 
Aufruf des constitutionellen Vereins über den Plan eines Institutes zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit.
Bericht der Generalversammlung des constitutionellen Vereins vom 10.4.1848.
 
Hierunter stehen die Unterschriften:
Dr. Röpell, Kries, Louis Sommerbrodt
 
Großonkel Louis Sommerbrodt erreichte nur ein alter von 66 Jahren. Er starb am 26. September 1877.
 
Seine Witwe zog sich nach Auerbach an der Bergstrasse zurück und kaufte sich dort eine Villa mit anliegenden Weinbergen. Sie starb am 22.4.1892.
 
Die einzige Schwester meines Großvaters, Pauline, war in Berlin mit dem Oberlehrer Fritz Schneider verheiratet. Das einzige dieser Ehe entstammende Kind, Paul, erreichte nur ein Alter von 21 Jahren.
Großonkel Schneider war ein eifriger Forscher der protestantischen Sekte der Schwenckfeldianer, so genannt nach deren Begründer Kaspar von Schwenckfeld, geb. 1489 bei Liegnitz in Schlesien.
 
Der Bruder von Fritz Schneider war Schriftsteller und der Vertraute und Vorleser des alten Kaiser Wilhelm I. Sein schönes Buch über seinen Kaiserlichen Herrn und über die damalige Zeit war z.Zt. sehr gern gelesen und geschätzt.
 
1770 - 1829
 
Mein Urgroßvater Heinrich, Friedrich, Wilhelm, Balthasar Sommerbrodt-Litochleb wurde am 21. Januar 1770 in Peitz in der Lausitz als jüngster Sohn des Oberpfarrers und Superintendent Wenzeslaus Letochleb (s. Seite 45) und seiner Ehefrau Charlotte, Elisabeth, geb. Niete, geboren.
 
Er nimmt dadurch eine besondere Stellung in unserer Familie ein, da er es gewesen ist, der unseren nachweislich seit dem Jahre 1380 geführten böhmischen Namen Li(e)tochleb in Sommerbrodt hat verdeutschen lassen.
Die Urkunde über die genehmigte Namensänderung bezw. Ihren Aufbewahrungsort hat weder mein Bruder Walter noch ich bisher ermitteln können. Meine beim Amtsgericht Glogau begonnenen Nachforschungen blieben ohne Ergebnis. Als er im September des Jahres 1801 heiratete, also mit einunddreißig Jahren, nannte er sich aber bereits Sommerbrodt. Um diese Zeit haben nacheinander auch die vielen Mitglieder unserer Berliner Vetternlinie ihren Böhmischen Familiennamen in Sommerbrodt verdeutschen lassen, sodass man darauf fußend, weiter forschen müssen wird.
 
Anno 1743, 2. IV. nennt aber bereits der Rektor der Universität Halle den stud. Theol. Letochleb: "Sommerbrodt". Unser Urgroßvater hat zuerst in Halle Theologie studiert und hat daran anschließend eine Pfarrstelle in der Provinz Posen erhalten.
 
Nach einiger Zeit finden wir ihn als Gouverneur am Kadettenhaus im Berlin. Er erteilte wahrscheinlich Relig.-Unterricht. Wie lange er und in welchen Jahren er in diesen beiden Stellungen tätig gewesen war, ist noch nicht ermittelt. Im Jahre 1798 ist er in den juristischen Verwaltungsdienst beim Amtsgericht Glogau hinübergewechselt und in dieser Laufbahn auch verblieben. Im Jahre 1813 ging er mit dem Oberlandesgericht nach Liegnitz und kam nach Beendigung der Befreiungskriege nach Glogau wieder zurück. Im Jahre 1819 wurde er an das Oberlandesgericht nach Breslau versetzt, wo er bis zu seinem Lebensende geblieben ist. Es ist anzunehmen, dass die Not der damaligen Zeit ihm veranlasst hatte, seinen Beruf zu wechseln und dass ihm als Pfarrerssohn aber die Tätigkeit als Pfarrer seiner inneren Einstellung näher gelegen hätte, als seine Tätigkeit beim Gericht, durch die er den Titel und Stellung eines Hofrates erlangt hat.
 
Seiner ausschließlich sitzenden Berufstätigkeit ist es wohl zuzuschreiben, dass er viel kränkelte und während seiner letzten fünf bis sechs Lebensjahre von einem sehr schmerzhaften Blasenleiden befallen gewesen ist. Die Ursache seines Todes ist aber "Nervenfieber" gewesen, worunter man damals Typhus verstand. Er hatte nur ein alter von 59 ¾ Jahren erreicht, als er am 5. Oktober 1829 starb. Er war also fast ebenso jung wie sein Vater dahingegangen.
 
Am 1801 hatte unser Urgroßvater die erst achtzehnjährige Julie Treutler geheiratet, die Tochter des Kammergerichtssekretärs Ehrenfried Treutler, der ein Sohn war des Erb- und Gerichtsherrn Ehrenfried Treutler auf Pohlsdorf und Neudeck in Schlesien und der Sophie, Louise, geb. Woyd, des Oberbürgermeisters von Groß-Glogau Christian Woyd ältesten Tochter.
 
Unsere Urgroßmutter entstammte einer sehr wohlhabenden und kinderreichen Familie. Von ihren sieben Brüdern war einer Referendar in der Schlacht von Belle Alliance gefallen. Ein anderer war Justizrat und Gutsbesitzer. Eine ihrer 4 Schwestern war an den Major von Krenski verheiratet.
 
Ihre Schwester Mathilde habe ich als neunjähriger Junge einige Male bei meinem Großonkel Otto Sommerbrodt in deren 84. Lebensjahre gesehen und gesprochen. Ich entsinne mich noch heute deutlich der gütigen, stark beleibten, aber noch rüstigen Dame und höre noch ihre auffallend tiefe, sonore Stimme, wenn sie mir jedes Mal erzählte, dass sie die Schwester meiner so früh verstorbenen Urgroßmutter sei. Ich verband mit dieser Urgroßtante den Begriff einer Urgroßmutter jeglicher Art und stellte mir dadurch auch vor, dass meine eigene Urgroßmutter ebenso ausgesehen haben müsse wie diese Urtante Mathilde. Aber wie andere hat ihr jüngster Sohn, mein Großonkel Julius, ihr Bild in seinen hinterlassenen Schriftsachen gezeichnet!
 
"Meine Mutter war eine überaus zarte, liebliche Erscheinung, fein und anmutig!
Sie war voller Herzensgüte.
Sie litt zwar sehr oft an Kopfschmerzen, war aber nie bettlägrig."
 
Ferner:
 
"Als ich am 10. November 1831 früh 8 Uhr aus meinem Colleg nach Hause kam, begegnete ich auf der Treppe zu unserer Wohnung Dr. Lachel. Er konnte mir nur noch schonend sagen, dass meine Mutter, ohne dass jemand es gemerkt und gewusst habe, vom Schlage gerührt und jetzt bereits gestorben sei."
 
Ferner:
 
"Die Eltern meiner Mutter waren sehr wohlhabend. Woher ihr beträchtliches Vermögen stammt, sit nicht zu ermitteln gewesen.
Da ich beide Eltern so zeitig verlor, als mein Vater starb, war ich 15 Jahre alt, bei meiner Mutter Tod erst 18 Jahre, sind mir dergleichen Äußerlichkeiten von geringem Interesse gewesen."
 
Die Herzensgüte meiner Urgroßmutter Julie ist zum köstlichen Erbgut all ihrer fünf Kinder geworden. Durch diese wurden ihre anderen hochwertigen charakterlichen und geistigen Eigenschaften nur noch wertvoller. Mit 26 - 24 - 22 - 20 - 18 Jahren bereits verwaist und ganz auf sich selbst gestellt, ehrten sie durch die erreichten hohen, sie voll befriedigenden Lebensstellungen ihre Eltern gewiss am schönsten.
 
Meine Urgroßeltern gehörten beide der Reformierten Kirche an.
Sie wohnten in Breslau erst auf der Reuschenstrasse, nahe der Elisabeth Kirche, zuletzt Ritterplatz, in der Nähe des Oberlandesgerichts.
 
Sie liegen in Breslau auf dem Alten Friedhof der Reformierten Gemeinde bestattet.
Als gemeinsame Grabinschrift hatten sie sich gewählt:
 
Heinrich Sommerbrodt
Hofrat
 
für die Erde geboren
den 21. Januar 1770
 
für den Himmel geboren
den 5. Oktober 1829
 
Julie Sommerbrodt
Geb. Treutler
 
für die Erde geboren
den 21. September 1783
 
für den Himmel geboren
den 10. November 1831
 
Der Friedhof der ev. Reform. Gemeinde befindet sich in Breslau an der Fischer- und Lorenzgasse. Das Grab der Urgroßeltern, an der "oberen Mauer" gelegen war 1890 noch vorhanden. Auf meine Anfrage im Jahre 1938 teilte mir die Friedhofsverwaltung aber mit, dass das Grab nicht mehr auffindbar und eingeebnet sei.
 
1717 - 1778
 
Mein Ur-Urgroßvater Wenzeslaus Litochleb wurde am 21. Oktober 1717 in Moraschitz in Böhmen geboren. Er ist des Mühlenbesitzers und Meisters Krystian Litochleb und seiner Ehefrau Dorothea vierter Sohn vor noch weiteren zwei Schwestern.
 
Wenzeslaus Litochleb ist der letzte Repräsentant, der vor ihm und mir ihm in Böhmen bis zur Auswanderung im Jahre 1732 ansässig gewesenen Angehörigen unseres Familienstammes. Er ist der letzte Träger unseres böhmischen Namens Litochleb. Er starb in Peitz 1778 als Oberpfarrer. Doch bevor auf ihn näher eingegangen sei, soll folgendes berichtet werden:
 
Unsere Ahnenreihe reicht von meinem Ur-Urgroßvater durch die Zeiten des Dreißigjährigen Krieges bis zum Jahre 1416 hinauf.
 
Der älteste bis jetzt bekannte Ahn ist:
 
Waklaw (Wenzel) Litochleb:
 
Er ist 1416 Ratsherr in Prag und 1420 der Bürgermeister von Prag. Aber die Litochleb werden bereits 1380 als eine Ratsherrenfamilie mit ansehnlichem Grundbesitz in und bei Prag, in Litochleb, erwähnt.
Die erste Namensgebung von ihnen ist voraussichtlich 1350 nach diesem Dorf Litochleby erfolgt, da in dieser Gegend in diesem Jahr die Familiennamen erstmals fest werden.
 
Noch heute 1949 heißt ein Vorort von Prag "Litochleb" dort wo sich einst das Gut der Litochlebs der Sommerbrodt befunden hat.
 
Johannes Litochleb
 
1534, geb. in Chrudium.
Er ist baccalaureus artium (Dr. philos.) gewesen.
 
Diesem folgen:
 
Krystian Litochleb
Geb. in Chrudim 1554
 
Johannes Litochleb
Geb. in Chrudium 1571
 
Jacob Litochleb
Geb. in Pardubitz 1592
 
Joseph Litochleb
Geb. in Drenie bei Pardub 1620
 
Johannes Litochleb
Geb. in Pardubitz 1648
1 Sohn, 3 Töchter am 24.6.
 
Krystian Litochleb
Geb. in Pardubitz 1679
Mühlenbesitzer und Meister,
Agitator für seine evangel. Glaubensbrüder in Böhmen.
Gest. in Berlin (?) 1742 (?)
Seine Ehefrau Dorothee ist in gleicher Weise tätig gewesen und wird als eine "Glaubensheldin" bezeichnet.
4 Söhne, 2 Töchter.
 
Wenseslaus Litochleb
Geb. in Morachitz 21.10.1717
Best. in Peitz i. L. 11.11.1778
 
1416
 
Über unseren ältesten Ahnherrn Waclaw Litochleb, Bürgermeister von Prag und über seine Zeit hat mein Bruder Walter Bedeutsames ermitteln können.
Seinen Briefbericht hierüber, den er mir am 22. März 1915 nach Vauquois am Argonnenwald in meinen Gefechtsstand geschrieben hat, lautet in wörtlicher Wiedergabe wie folgt:
 
Frankfurt/M. 22.3.1915
 
"Lieber alter Bruder!
 
Ich will heute einmal gar nicht vom Kriege sprechen und Dir wie im tiefsten Frieden berichten über eine Arbeit, die ich nach dem Abendessen als Ablenkung zur Beruhigung an manchen Tagen der Woche treibe.
Ich übersetzte nämlich aus dem czechischen und bin durch fortgesetzte Übung dazu gekommen, am Abend schon eine halbe Druckseite fertig zu machen.
 
Nachdem ich die Geschichte der Böhmischen Auswanderung der Jahre 1730 - 1740 nach Berlin und Umgebung mit viel Interessantem für unsere Familie fertig hatte, begann ich auf gut Glück eine große Geschichte der Stadt Prag im Mittelalter durchzustudieren.
 
Die Ausbeute der zwölf Bände war hochinteressant. Ich wusste aus einem anderen czechischen Werke schon seit zwei Jahren, dass Vorfahren von uns Litochleb in Prag ansässig gewesen waren und dass ein kleiner Ort dicht bei Prag in dieser Zeit Litochleby heißt.
 
Die Litochleb tauchen gegen 1380 in den Urkunden auf, wozu man bedenken muss, dass etwa um 1350 erst die Familiennamen in dieser Gegend fest wurden, im Rheinland gegen 1300 und in Schlesien etwa 1400.
 
Bekannt ist mir, dass die Litochleb großen Grundbesitz hatten, neu jedoch, dass der eine, Waclaw, d.i. Wenzel Litochleb in der Zeit von 1416 an Ratsherr in Prag ist. Im Jahre 1420 ist er sogar der Bürgermeister von Prag. Auch als vorsitzender eines Ausschusses wird er erwähnt und als Vorsitzender des "Gerichts der sechs Herren" und auch ein Richterspruch ist von ihm erhalten.
 
Das Interessanteste ist aber folgendes:
 
Vergegenwärtige Dir die Zeitverhältnisse. In Böhmen war um das Jahr 1400 der Vorläufer Luthers, Johann Huss aufgetreten. Wie alle religiösen Fragen zu jener Zeit, und auch heute noch, denke an die englische Mission und an die russische Kirche in Galizien, war die Bewegung eine Macht und politische Frage. Das hochkultivierte Böhmen jener Zeit, Prag ist die älteste Universität nach Paris, wollte geistig nicht mehr von Rom abhängig und der hussitische Adel und die Bürgerschaft der Städte wollte sich mehr oder weniger vom König unabhängig machen, das heißt also, selbst die Macht ausüben.
 
Im Jahre 1415 war Huss, dem der Kaiser freies Geleit versprochen hatte, auf dem Konsil zu Konstanz, da der Kaiser sein Wort nicht gehalten, verbrannt worden.
Darauf ungeheure Erregung in Böhmen.
Der Sitz der Erregung war natürlich Prag und die dortige Universität.
Die Sache steigert sich und 1420 ist in Prag Revolution. Die Klöster werden geplündert, der katholische Gottesdienst wird abgeschafft, die Truppen des Königs vertrieben, die Bewegung auf das Land hinausgetragen, wo sie bei dem Adel lebhaften Beifall fand, und der König Siegesmund, der zugleich Deutscher Kaiser war, zu Zugeständnissen genötigt.
 
Und unter den vier bedeutendsten Vertretern dieser Bewegung war der eine, Waclaw Litochleb, der Bürgermeister von Prag, unser Ahn!
Auf dem ansteigenden Hängen der Burg von Prag, dem Haradschin, bekommt er aus dem dort befindlichen Klostergut einen Weingarten.
 
Im Jahr 1426 wird seine Witwe Dorothee erwähnt.
 
Bis 1436 tobten die Hussittenkriege, die Hussitten von Naumburg, bis sie schließlich das Abendmahl mit dem Kelche zugestanden bekamen.
Unterdrückt wurden sie erst wieder, als nach der verlorenen Schlacht am Weissen Berge, 1620, die Gegenreformation begann.
 
Die geistigen Nachfolger der Husitten sind die "Böhmischen Brüder" und die "Herrenhüter".
 
Da nun aber in den Jahrzehnten der furchtbaren Glaubensverfolgung niemand zu einem "Böhmischen Bruder" geworden sein wird, der es nicht schon vorher war, so können wir sicher damit rechnen, dass unsere Familie, die 1732 als "Böhmische Brüder" in Preußen eingewandert ist, seit dem Jahre 1400, also seit länger als 500 Jahren, also 120 Jahre VOR Luther, nicht mehr katholisch hat sein wollen!
 
Es werden wenige Familien sein, die einen solchen Stammbaum haben.
Deine drei Jungen haben ihn fortzusetzen!
 
Und sonst alles denkbare Gute!
 
Herzinnigst Dein Walter."
 
Walters großer Verdienst wird es immer sein und bleiben, das er unsere Familiengeschichte, die bis dahin nur bis 1679 bis zum Vater meines Ur-Urgroßvaters, also bis Krystian Litochleb Mühlenbesitzer und Meister in Pardubitz, hinaufreichte, bis ins Jahr 1416 uns offenkundig gemacht hat.
 
Mit Waclaw Litochleb, dem Bürgermeister von Prag, fand sie zunächst im Februar 1914 ihren Abschluss. Die Berufung Walters in die leitende Stellung an der Frankfurter Hypothekenbank, die Zeiten dann des ersten Weltkrieges mit dem darauf folgendem politischen und wirtschaftlichen Wiederbruch Deutschlands und schließlich die Vorahnung und dann die Gewissheit seiner schweren Erkrankung haben Walter nicht mehr die Zeit und die innere Ruhe gegeben, seine Familienforschungen weiter fortzuführen.
 
Meine versuchte Fühlungnahme mit den Pfarrämtern der Czecho-Slowakei, dem Produkt des Versailler Diktates, scheiterte jedes Mal wegen der feindlichen negativen Einstellung seiner Pfaffen gegen alles Deutsche.
 
Nach Beendigung des zweiten Weltkrieges muss es Pflicht und Freude sein, die Geschichte der Litochleb aus den Jahren von 1679 hinauf bis 1380 weiter auszubauen und womöglich noch darüber hinaus neu zu erforschen.
 
Als Wegweiser hierzu mögen Walters letzte Ermittlungen dienen.
Er schreibt:
 
Wir hießen ursprünglich Litochleb. Diese Wort ist zusammengesetzt aus dem Verbum "litojo" - sparen und aus dem Hauptwort "Chleb" - Brot. Das Verbum litojo hat auch den Nebenbegriff: geizig sein.
"Litochleb" ist also einer, der mit seinem Brot (Getreide) geizt und spart, der kargt, der ein Kärger ist.
Die Verdeutschung unseres Namens hätte mithin "Kärger" lauten müssen, oder auch Kargbrodt".
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die Kenntnis der böhmischen Sprache allmählich verloren geht, da taucht neben der Schreibweise "Litochleb", oft auf derselben Seite durcheinandergehend, auch die Schreibweise "Letochleb" auf. "Leto" aber heißt - Sommer, sodass zwischen den Jahren 1780 - 1810 aus Leto - Sommer und Chleb - Brot der Name Sommerbrodt entsteht und sich bei uns und bei der Berliner Vetternlinie auch durchsetzt und angenommen wird."
 
(Ich bemerke hierzu, dass die Buchstaben "i und e" in böhmischen Familiennamen öfters gleichzeitig nebeneinander gebraucht wurden. Vergl. Geschichte der Stadt Prag. Familienarchiv.)
 
Walter stellte ferner fest:
"Bis vor etwa 100 Jahren hieß ein kleiner, jetzt längst eingemeindeter Ort bei Prag "Litochleby".
Ob unsere Familie den Namen von diesem Ort hat, oder umgekehrt, ist mir nicht sicher. (meist ersteres zutreffend.)
Um 1380 sind die Liochlebs eine Ratsherrenfamilie mit ansehnlichem Grundbesitz in und um Prag.
Dieser Prager Zweig, der hussitisch war, muss unter Verlust seines Vermögens Prag verlassen, als nach der Schlacht am Weissen Berge, am 8.11.1620, im Dreißigjährigen Krieg die Gegenrevolution begann.
Auch ein anderer Zweig muss Prag verlassen.
Diese Seitenlinie siedelt sich in Pardubitz an (Vergl. Stammbaum unserer Familie Litochleb-Sommerbrodt).
Als dann die "Böhmischen Brüder", die geistigen Nachkommen der Hussiten, immer schlimmer bedrückt werden, wandern sie etwa zwischen 1725 - 1732 aus.
Rund 2000 Böhmen nimmt der Preuss. König in der Mark Brandenburg auf und siedelt sie in den dort gegründeten böhmischen Kolonien Rixdorf bei Berlin und Nowawes bei Potsdam an.
Nach Rixdorf kommen zunächst alle Mitglieder unserer Vetternlinie Litochleb und auch unser Krystian Litochleb.
 
Die Angehörigen der Vetternlinie bleiben in Rixdorf und in Berlin und gewinnen bald Wohlstand. Dieser ältere Zweig starb 1871 mit Auguste Sommerbrodt, der Frau des bekannten Volkswirtschaftlers Prince-Smits aus.
 
Ein Angehöriger des jüngeren Zweiges, der Sohn unseres Krystian Litochleb, studierte in Halle Theologie. Es ist mein Ur-Urgroßvater Wenzeslaus Litochleb. Er wurde von Friedrich dem Großen zum Geistlichen der neugegründeten böhmischen Kolonie Nowawes bei Potsdam ernannt. Er starb in Peitz als Superintendant und Oberpfarrer. In diese ehemalige kl. Festung in der niederlausitz ist er deswegen berufen worden, wie ich aus den Aktien des Konsistoriums festgestellt habe, weil er mit seinen böhmischen Sprachkenntnissen die Seelsorge der in und um Peitz wohnenden, sprachlich mit dem Böhmen verwandten Wenden leicht ausführen konnte."
 
Gez. Walter Sommerbrodt
Februar 1914
 
1679 - ????
 
Obige Ausführungen seien nun weiter ausgebaut.
Zuerst sei über Krystian Litochleb, meines Ur-Urgroßvaters Wenzeslaus Litochleb Vater berichtet, der 24.6.1679 in Pardubitz geboren war.
 
Krystian Litochleb war auch einer der aufrechten, charakterstarken Männer, die sich dem geistigen Zwang und Druck nicht fügen wollten und konnten, der ihres evangelischen Glaubens wegen auf sie ausgeübt wurde, damit sie ihn verließen und katholisch würden. Über den Böhmen hatten die Greuel des dreißigjährigen Krieges, da man "mit Hunden sie zur Messe gehetzt", hatte die Vergewaltigungen eines vollen Jahrhunderts, da man mit unerbittlicher Konsequenz alle evangelischen Regungen zu ersticken suchte, und sie bis aufs Blut verfolgte, wie schwerstes Unheil gelastet.
 
Krystian Letochleb, der Mühlenbesitzer und Meister, hatte den Mut und optimistische Charakterstärke, sich gegen den von den Jesuiten ausgeübten Terror nicht nur innerhalb seiner eigenen Familie aufzulehnen, sondern auch agitorische gegen ihn aufzutreten. In gleicher Weise ist seine glaubensstarke Ehefrau Dorothee, tätig, die von ihren Zeitgenossen und in der Chronik jener Zeiten als eine "Glaubensheldin" bezeichnet worden ist.
 
Bei der Taufe unserer Dorothee, am 23.4.1903 knüpfte hieran in seiner Tischrede mein Bruder Heinz an. Auch sie ist dann eine Heldin allzeit gewesen, nämlich der Treue zu allen von ihr übernommenen Pflichten und Aufgaben.
 
Wo der Grundbesitz von Meister Krystian gelegen hat, bei seiner Geburtsstadt Pardubitz oder bei Leitomischel, der Gegend seiner Passion, steht nicht fest. Doch ist letzteres anzunehmen. Über seine Erlebnisse hierbei möge Krystian Litochleb selbst zu Worte kommen. (Auszug aus dem Buch: "Geschichte der Weberkolonie Nowawes" von Zichgraf.)
 
Der Vater Krystian unseres miteingewanderten ersten Predigers Wenzeslaus Letochleb hat folgende Begebenheit, die ihm widerfahren, berichtet:
 
"In der Gegend von Leitomischel kam ein Jesuit mit dem Hauptmann und examinierte die Leute, wo der evang. Prediger gewesen sei. Da sie es aber nicht wussten, liess mann uns allen die Hände nahe bei den Fäusten binden, dann musste sich männiglich bücken und die Ellenbogen unter die Kniee thun. Sie aber (die Jesuiten) steckten zwischen die Ellenbogen und die Kniee einen Prügel und mussten zwei Männer mit dicken Ochsenziemern zuschlagen, bis die Haut entzwei sprang, indem jeder 120 Streiche bekam.
Darauf wurden wir an einen Klotz geschlossen, und schickte der Graf von Trautmannsdorf wieder den Jesuiten und liess dieser uns noch mehr schlagen denn zuvor, also dass Hemd und Haut ganz zerschlagen und alles untereinander gemenget war.
Einer Weibesperson zerschlugen sie nicht nur den Rücken, sondern peitschten auch ihre Brust, bis sie Blut trief.
 
Endlich wurde ich selbst mit mehreren Anderen zum dritten Male auf solche unmenschliche Art behandelt und zerprügelt, also dass das ganze Hemd zerschlagen war.
 
Als ich nun nach dieser Exekution halb todt dalag, sprach der Hauptmann zu mir: "Warum lässt du Dich martern, werde doch katholisch! Würde ich doch lieber ein Türk werden, als solche Peinigung erdulden!"
Ich aber rief: "O Herr Gott, verlass mich nicht!"
Darauf sie mich verlachten und verspotteten. Auch schlossen sie mich wiederum an einen Klotz, mit Schellen an den Händen und Eisen an den Füssen, und steckten mich in ein sieben Ellen tiefes Loch, wo ich sieben Tage und sieben Nächte schmachten musste.
Zuletzt aber that man uns alle unter die Soldaten und mussten wir dort eine strenge Zucht lernen.
Ich aber erkaufte mir meinen Abschied, nahm Weib und Kind und ging nach Sachsen und dannen nach Nowawes."
 
(Ich bemerke hierzu:
In der Festpredigt, gehalten zu Nowawes, den 24.5.1903 aus Anlass der 150 jährigen Jubelfeier der dortigen Kirche in Gegenwart des Kronprinzen als Vertreter des Kaisers wird hierauf, auf Krystians Passion, besonders hingewiesen.)
 
Krystian war 53 Jahre alt, als er mit seiner Ehefrau Dorothee und mit seinen sechs Kindern im Jahre 1732 in Preußen unter den Königen Friedrich Wilhelm I und Friedrich d. Gr. Eine bessere Heimat suchte und diese erst in Berlin-Rixdorf und nach Fertigstellung der Kolonistenhäuser dann in Nowawes auch fand. Von seinen Kindern war Jakob 20 Jahre alt, Balthasar 19, Johann 17, Wenzeslaus 15, Dorothea 13 und Juliane 12 Jahre alt, als sie in die Mark Brandenburg einwanderten.
 
Krystian nahm sich seiner "Böhmischen Brüder" nicht nur in der gemeinsamen neuen Heimat an, sondern betreute von hier aus auch die in Böhmen zurückgebliebenen noch weiter. Im Jahre 1735 übergibt er dem "Corpus Evangelikorum" in Regensburg durch seinen Bruder Johann ein Intercessionsschreiben zu Gunsten der bedrängten Evangelischen in Böhmen.
 
Weitere angaben über das Wirken und Leben Krystians und seiner tapferen, glaubensstarken Frau Dorothee sind in keiner Chronik zu finden gewesen, auch weisen die Kirchenbücher weder seinen noch seiner Frau Dorothee Tod auf, sodass angenommen werden kann, dass er außerhalb von Berlin oder Nowawes in einem zunächst uns noch unbekannten Ort erfolgt ist.
 
Welches heldenhafte Beispiel von Glaubens- und Charakterstärke hat Krystian seinen Böhmischen Glaubensbrüdern durch das Ertragen seines Martyriums gegeben! Ein wie wertvolles Erbgut bester Eigenschaften offenbarte sich in ihm!
 
In unserem Familienbesitz befindet sich als altes Erbe ein Bruchstück eines czechischen Psalters aus dem 15. Jahrhundert. Die Schrift, auf 24 Pergamentblättern, umfasst Psalm 102.
Er ist zum Schicksalspsalm Krystian Litochlebs geworden.
 
"Mein Gebein klebt an meinem Fleisch vor Heulen und Seufzen.
Täglich schmähen mich meine Feinde.
Lass mein Schreien zu Dir kommen.
Verbirg Dein Antlitz nicht vor mir in der Not.
Doch Du wendest Dich zum Gebet der Verlassenen und verschmähst ihr Gebot nicht."
 
Krystian Litochleb, mein Ur-Ur-Urgroßvater, hat aus seiner alten Bibel, die er sehr wahrscheinlich schon von seinen Ahnen übernommen hatte, diesen Psalm herausgetrennt und ihn 1732 mit sich in die neue Heimat genommen.
 
Und dann kamen diese vierundzwanzig Pergamentblätter immer wieder vom Vater auf den Sohn, bis heute!
 
Unser Schicksalspsalm war aber auch zum Schicksalspsalm aller anderen böhmischen Exulanten geworden und keiner hat ihn seiner Gemeinde besser interpretieren können als Wenzeslaus Litochleb, mein Ur-Urgroßvater, der Sohn Krystians, der erste Pfarrer der in Nowawes sich wiedergefunden gleichfalls ihres evangelischen Glaubens wegen gemarterten, aus der Heimat, von Gut und Hof vertriebenen Böhmen.
 
Anmerkung:
Unsere Pergamentblätter hat Walter 1912 dem Professor für Sprachkunde an der Universität Breslau, Paul Diels, zur Begutachtung übergeben wollen. Nach Walters Tod erinnerte mich Prof. D. an die für unsere Familie und für weitere Kreise sehr interessanten Feststellungen.
 
Prof. Diels stellte fest:
"Die Schrift gehört in die erste Hälfte des XV. Jahrhunderts, um 1440, so auch nach Angabe drei (namentlich genannter) Sachverständiger.
Die Orthographie zeigt die des XV. Jahrhunderts, eine Verbindung älterer und Hussischer Schreibweise. Vom Text kann nur gesagt werden, dass er den Übersetzungen des XIV. Jahrhunderts fern steht; seine nächsten Verwandten dürfte er an den czechischen Bibeln seiner eigenen Zeit, des XV. Jahrhunderts, haben."
 
Prof. D. hat die Beschreibung unserer Handschrift in einem Sonderdruck veröffentlicht, ihren Text abdrucken lassen und besonders darauf hingewiesen, dass es sich hier um den ersten vollständig erhaltenen Psalm aus der Zeit von Hus handelt.
(Unseren Psalm halte ich in der eis. Kassette des Archivs aufbewahrt.)
 
1717 - 1778
 
Lassen wir nunmehr unsere Gedanken noch eingehender zu meinem Ur-Urgroßvater Wenzeslaus Litochleb zurückgehen.
 
Wir sehen ihn vor uns auf der Kanzel als "eines ehrlichen Emigranten Sohn" stehen, wie er als junger Prediger aus seines Vaters Pergamentblättern den armen Webern in Nowawes in ihrer böhmischen Sprache einen Abschnitt aus dem 102. Psalm vorliest und bewegten Herzens erläutert.
Nachdem er ab 1743 in Halle Theologie studiert, hatte er 1753 die Pfarrerstelle in Nowawes, "dem Emigrantendorf, das nach Willen Friedrich d. Gr." Auf der wüstesten Stelle des Märkischen Sandes, zwischen Kiefern" errichtet worden war, erhalten.
"Die Häuser sind äußerst ärmlich. Die Wände außen und innen nur mit Lehm verputzt, die Tür nur mit Holzriegel versehen. Der Flur ist mit faustgroßen Feldsteinen belegt. Von gleicher Beschaffenheit ist auch das Pfarrhaus."
Und doch genügt ihm und seiner jungen Frau Charlotte, des Oberamtsmanns Niete Töchterlein, aus Blankenfelde bei Berlin, Ort und Unterkunft, um glücklich zu sein. Am 6.11.1754 hat die Hochzeit stattgefunden. Während der zwölf Jahre seiner Amtstätigkeit in Nowawes werden ihm hier 2 Töchter und ein Sohn geboren, Dorothea, Christian, beide genannt nach ihren Großeltern und Marie-Elisabeth.
 
Hören wir, was sein Amtsnachfolger über ihn berichtet hat:
"Einen Beweis seiner Demuth, seiner Genügsamkeit und seiner Liebe zur Gemeinde gab er damit, dass er es sich gefallen ließ, von seinen Gemeindemitgliedern anfänglich beköstigt zu werden und deswegen täglich oder wöchentlich mittags ein Tischgenosse der einen oder der anderen Familie, der Reihe nach, zu sein.
Ungeachtet dessen hatte er aber in der Folge manchen Verdruss, weshalb er sich auch entschloss, sein Amt in Nowawes aufzugeben. Das fehlende zu seinem Auskommen. Von 200 Thalern, wurde ihm ebenfalls anfänglich durch Kollekten zusammen gebracht, deren zu bestimmten Zeiten auch noch sein Nachfolger genoss.
Seiner Verdienste um die Kolonie sind mancherlei, denn durch seinen achtungswerten Charakter hat er der Gemeinde manchen Vorteil verschafft und zu manchen Rechten verholfen, die sich seine Bescheidenheit niemals selbst zugeeignet hat. Arme und Witwen nahmen ihre Zuflucht zu ihm und was er vermochte, das tat er für sie."
 
Das Staatsarchiv in Berlin schreibt:
"Der bisher im Amt in Nowawes gestandene Prediger Litochleb hat bei seiner Gemeinde große Unruhe und Widerwärtigkeiten.
Weil es aber leicht an den Predigern fehlen möchte, die böhmisch predigen können, so würde es schade sein, wenn er von seiner Kolonie ganz abgehen möchte."
 
Aber nicht nur durch die "aufsässigen, hinterhältigen und zanksüchtigen Gemeindemitglieder und Dörfler", deren erster Ortsvorsteher Wenzeslaus Litochleb war, hatte er großen Ärger und Verdruss zu ertragen, noch schlimmeres hatte er durchzumachen, als 1760 die Russen Ort und Kirche plündern und alles was Wert hatte, aus den Häusern rauben und verschleppen.
Zu dieser Zeit waren im Ort 155 Kolonistenfamilien mit 681 Seelen. (Heute leben dort 30.000 Einwohner mit viel Industrie.)
 
Vom 22. November 1764 ab ist mein Ur-Urgroßvater nach Peitz in der Lausitz versetzt unter Ernennung zum Oberpfarrer und unter gleichzeitiger Übertragung der Geschäfte des Superintendenten von Cottbus. Seine Berufung dorthin erfolgte hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt, dass in dortiger Gegend die den Böhmen sprachverwandten Wenden angesessen sind und durch den der böhmischen Sprache mächtigen Oberpfarrer am besten betreut werden konnten.
 
Bei seiner Berufung nach Peitz war er 47 Jahre alt, seine jüngste Tochter Marie-Elisabeth erst 5 Monate.
Fünf Jahre darauf, am 21. Januar 1770 wird ihm ein zweiter Sohn, Heinrich, Friedrich, Wilhelm, Balthasar geboren, der mein Urgroßvater geworden ist.
 
Am 12. November 1778 stirbt mein Ur-Urgroßvater im Alter von 60 Jahren. Auf dem Friedhof an seiner Kirche in Peitz, nächst dem Portal, findet er seine letzte Ruhestätte. Er hinterließ, wie im Kirchenbuch zu lesen steht: " eine Witwe von 45 Jahren, mit unerzogenen Kindern im Alter von 21 - 19 - 14 - 8 Jahren.
 
 
 
 
Teil III.  Meine Eltern und wir Geschwister.
 
 
Die Ehe meiner Eltern ist überaus glücklich gewesen. Mama hat oft ausgesprochen, dass niemals die kleinste Differenz oder Disharmonie zwischen beiden Ehegatten bestanden habe. Immer habe sie sich führen lassen. Es entsprach das ihrem Naturel in jungen Jahren und dann später ihrer grundsätzlichen Einstellung zu den von ihr auf Grund kluger Beobachtungen gesammelten Lebenserfahrungen.
 
Mama hatte sich in sehr jungen Jahren Papa erschlossen. Bei ihrer Verlobung fehlten noch einige Wochen bis zur Vollendung ihres siebzehnten Lebensjahres; Papa war 27 Jahre alt. Freudig hat sie seine persönlichen Ansichten und Interessen von Anbeginn zu den ihrigen gemacht, hat sich vollkommen in sie hineingelebt, ist in ihnen aufgegangen und soweit ihr das möglich war, später auch in seinen Berufsinteressen.
 
Oft und gern sprach sie es aus, dass grundsätzlich sich die Frau nach ihrem Mann zu richten habe und dass dieses das Rezept sei, dass jede Ehe gut gerate. Das sei keine Preisgabe der Selbstständigkeit im Fühlen und Denken, sondern eine Hinaufentwicklung zu den größeren Erfahrungen und gereifteren Erkenntnissen des geliebten Mannes, wodurch auch dieser wiederum Gewinn habe.
 
Bei solcher Einstellung der Eltern zueinander hatten wir Kinder den großen Vorteil, dass wir in diesem vollkommenen Gleichklang Widersprüche oder Differenzen überhaupt nicht kennen lernten. Die autoritäre Stellung, die Mama unserem Vater liebevoll gab, verschaffte beiden Eltern unseren aller selbstverständlichen Gehorsam und zwar freudig und vorbehaltlos. Nicht als ob Papa etwa streng oder rechthaberisch gewesen wäre; das ganze Gegenteil war bei ihm der Fall.
 
Wir hatten aber Gehorsam als eine selbstverständliche Angelegenheit kennen gelernt, den zu erfüllen uns niemals schwer gefallen ist. Dazu kam, dass uns in unseren Charakteranlagen Widerspruch nicht angeboren war.
 
Hierdurch ist es mir (wie auch Heinz) eine Selbstverständlichkeit gewesen, der militärischen Disziplin mich zu fügen. In den älteren Vorgesetzten, besonders in den höheren Chargen, sah ich mehr den erfahreneren Berater als die sich mir gegenüber betätigenden Befehlsgewalt. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass das Dienstverhältnis zwischen Vorgesetzten und Untergebenen bei der Feldartillerie (und Kavallerie) stets sehr viel angenehmer und gelockerter war, als bei der im altpreußischen Kommiss erstarrt gebliebenen Infanterie, bei der unser Helmut leider eine sehr harte Schule hat kennen lernen müssen. Ungeeignete Lehrkräfte aus dem Reserveverhältnis, die obendrein zeitbedingt gegen den Akademiker eingestellt waren, haben besonders durch ihre Voreingenommenheit ihm den Dienst erschwert und ihm die Dienstfreudigkeit zeitweise stark beeinträchtigt.
 
Wir drei Brüder sollen sehr leicht zu erziehen gewesen sein. Da unser Vater durch seine Sprechstunden und Collegs, durch seine Forschungen über das von ihm in die Medizin eingeführte Creosot und durch seine Veröffentlichungen hierüber, ferner durch seine aktive Beteilungen im öffentlichen politischen Leben in seiner Zeit ebenso beansprucht war wie durch seine Mitgliedschaft in wissenschaftlichen und kulturellen Vereinen (er war u.a. Vorstand des Breslauer Orchestervereins) und schließlich auch als "Alter Herr" seiner Raczek-Burschenschaft, so lag in unseren Entwicklungsjahren unsere Erziehung vornehmlich in den Händen von Mama. Obwohl wir unseren Vater nur Mittags und Abends bei uns hatten, so blieb er uns doch stets nahe. Mama hielt ihm manchen kleineren und größeren Schulverdruss fern, so dass wir ihn stets in froner Stimmung sahen, wenn er bei abendlicher Musik am Klavier oder Harmonium Entspannung suchte, uns mit Opermelodien bekannt machte oder uns Studentenlieder vorsang und beibrach
Dabei fehlte niemals eine halbe Flasche Rheinwein oder Moselwein, den er durch alle Jahre von seinem Studienfreund J.P. Valkenberg in Worms/am Rhein bezog. Valkenberg ist der Alleinbesitzer des weltbekannten Weinbergs innerhalb das Klosterartens in Worms, wo der Liebfrauenmilch-Wein in Wirklichkeit wächst.
 
Zur Taufe von mir, als seinem erstgeborenen Sohn und Stammhalter, dedizierte Valkenberg Papa eine Kiste 1861er Liebfrauenmilch Auslese, von diesem köstlichen Taufwein wird wohl später noch die eine oder andere Kiste in unseren Keller gefunden haben; fest steht jedenfalls, dass bei Papas Tod noch 40 Flaschen vorhanden waren und je zur Hälfte mir und Heinz zugesprochen wurden. Dieses seltene Edelgewächs hat dann im Laufe von vierzig Jahren alle Feiern in meiner eigenen Familie verschönt und ihnen als mein Taufwein eine besondere Note gegeben.
 
An den Sonn- und Feiertagen beschäftigte sich Papa sehr eingehend mit uns, noch mehr aber, wenn wir während der großen Schulferien mit den Eltern auf Reisen gingen.
 
Diese schon von Jugend an unternommenen Reisen hatten auf meine Entwicklung einen großen Einfluss. Wenn auch bis etwa zu meinem 14. Lebensjahr nur die Badeorte Schlesiens und der Ostsee aufgesucht wurden, so erhöhten auch sie schon die Freude in der Natur und an den Naturwissenschaften und machten mich außerdem fremden Menschen gegenüber, mit denen man zusammenkam, unbefangen und aufgeschlossen. Als wir dann alljährlich über Wien, München oder Frankfurt/M. das Salzkammergut mit Jschl, Salzburg, den vielen schönen Seen oder Berchtesgaden aufsuchten, oder in der Schweiz oberhalb des Vierwaldstädter Sees oder auf den Bergen bei Zug "Stammgäste" wurden, da war meine Aufnahmebereitschaft für die größeren Verhältnisse bestens geweckt. Das Zusammensein mit Familien aus Italien, Holland, Belgien, Österreich, Spanien, Russland, USA und der Schweiz gaben mir einen großen Vorsprung gegenüber meinen Altersgenossen im Verkehr und in der Beurteilung von Menschen beiderlei Geschlechts und jeden Alters.
Ich begriff schnell, dass mit manchen Menschen sogleich der geistige Kontakt gefunden ist und mit einer gewissen anderen Art um vieles schwerer und dass, wenn man sich gleichaltrig, gegenseitig verstehen will, dieses auch ohne große Kenntnis der fremden Sprache schnell möglich ist.
 
Mir wurde auch bewusst, welch großes Vertrauen der deutsche Offizier in aller Welt besaß, besonders, wenn er ritterlich und aufgeschlossen sich gab und zeigte.
 
Das Zusammentreffen mit interessanten Menschen von Kultur und Bildung erweiterte stets mein Wissen. Wie sehr gleichen sich doch die Menschen überall in gleichen Bereichen der Gesellschaft!
 
Der sonnennahe Aufenthalt auf Bergeshöhen, die reine stärkende Luft dort oben, die herrliche Natur und nicht zuletzt die gepflegten, großartigen Hotels bewirkten, dass eine unbändige Sennsucht verblieb, dorthin wieder zurückzukehren oder weitere Schönheiten kennen zu lernen.
 
Schon damals war ich entschlossen, das alles einmal den Meinigen zu bieten, wenn ich später sie besitzen und für sie zu sorgen haben würde.
Sogleich nach meiner Verheiratung ging ich daher auf mich eine Lebensversicherung bei der Lübecker Lebensversicherungsgesellschaft über RM 30.000 ,-- ein, die längstens nach 20 Jahren zur Auszahlung zu kommen hatte. Der nahe und ferne Osten und Amerika sollten für mich und die Meinigen das Ziel unserer Reisen und Erkenntnisse werden. Ihnen sollte offenbar werden, dass nur ein weiter Blick und eine umfassende Bildung die großen Zusammenhänge politischer und kultureller Art zu erfassen vermag. Für ihren späteren Beruf und Lebensweg und für die Bildung ihres Charakters war solche Erkenntnis von entscheidendem und unschätzbaren Wert.
 
Den nennenswerten Versicherungsbetrag erhielt ich 1922 ausbezahlt, als die Inflation bereits heraufzog. Mit ihrer Beendigung war auch meine Hoffnung zerronnen, die weit gestreckten Ziele verwirklichen zu können.
 
Von allen ihren Reisen brachten sich die Eltern selbstgepflückte Blumen mit. An den Winterabenden wurden sie, inzwischen durch sorgsame Pressung getrocknet, auf weißen Kartons zu kunstvollen kleinen Sträußen gruppiert und darauf befestigt. Die Fundorte und eventuell besondere Erinnerungen wurden hinzugeschrieben. Mama hat ihr ganzes Leben an dieser ihr lieb gewordenen Gewohnheit festgehalten, sich Blumen zu sammeln, die mit ihr Zeugen besonderer Eindrücke und Erlebnisse gewesen waren aber nicht nur auf Reisen, sondern auch bei allen Familienereignissen, bei Freude und Trauer.
Alljährlich, bald nach Neujahr war es bei uns zur Tradition geworden, abends mit Hilfe von Bädeckers Reisehandbuch, Atlas und Reichskursbuch Pläne für die kommende Sommerreise zu schmieden. Uns allen verhalf dieser Brauch zur Erweiterung unserer geographischen Kenntnisse. Soviel Pläne aber jedes Mal auch geschmiedet worden waren, das Risiko wurde nicht eingegangen, vielleicht noch schöneres kennen zu lernen. Die Sehnsucht nach den bekannten, herrlich schönen Bergen und die Gewissheit, einen großen Teil der alten, lieben Bekannten wieder zu sehen, überwog zuletzt und warf alle neuen Pläne um, wenn die Ferien- und Reisezeit sich wider jährte. Besonders freuten wir uns alle auf das Wiedersehen mit dem russischen General v. Soltikoff auf Rigi-First, hoch über dem Vierwaldstädter See, der mit seinen beiden jugendlichen Töchtern mit Gesellschaftsdame und mit seinem gleichfalls verwitweten Bruder (auch russ. General) wie wir, Stammgast dort war. Im Sommer bereiste er die Schweiz und Italien, im W
inter verkehrte er mit seinen Töchtern in der großen Petersburger Gesellschaft und am Zarenhofe. Die ältere seiner beiden Töchter war Hofdame der Kaiserin. In den Zwischenzeiten bewirtschafteten beide Generale ihr im südlichen Kaukasus gelegenes Gut. Zuerst waren die beiden, noch in den besten Jahren befindlichen Herren immer etwas still; bald aber begannen sie wieder wundervoll interessant über russische Verhältnisse zu plaudern und von den Petersburger "Winteraffären" zu erzählen, durch die ich und Heinz erstmalig Einblick in eine uns bis dahin fremde Welt erhielten, in der man sich bestimmt nicht zu langweilen brauchte. Die beiden Töchter, hübsch und liebenswürdig, beherrschten auch die deutsche, englische, französische und italienische Sprache, wie das die meisten Angehörigen der russischen Oberschicht auch gekonnt haben sollen.
 
An den Donnerstagabenden war Papa zweimal jedes Monats im Club in den schönen Räumen des Breslauer Zwingers.
Wir Jungen freuten uns stets auf dieses Ereignis, weil wir uns dann als unser "Clubessen" ein kleines Lieblingsgericht bestellen durften. Fast immer fiel die Wahl auf die leckeren Wiener Kaiserschmarren oder auf die nicht weniger gute warme Apfelsuppe. Wir hielten an diesem Brauch fest, bis wir das Elternhaus verließen. Mama spielte mit uns Gesellschaftsspiele oder ließ uns allerhand Ulk treiben. Heinz zeigte dabei sein schauspielerisches Talent und karikierte seine Lehrer und Schulkameraden oder unsere Tanten und Onkel. Alte Röcke, Hüte und Plaids halfen hierbei mit. Zuweilen auch erzählte uns Mama von unseren Anverwandten. Niemals erfuhren wir Schwächen von ihnen, sondern stets nur liebenswerte Eigenschaften, die sie uns näher brachten. Und auch von ihrer italienischen Heimat erzählte sie uns. Die herrlich blaue und sonnige Adria, Triest mit seinen vielen Fremden Schiffen, der Fisch- und Austernmarkt, der Föhnsturm und die eisige Bora der Nordwind im Winter, vom rauen Karst her waren uns
feststehende Begriffe geworden, ebenso wie Neapel mit dem Vesuv und Rom mit seinen alten Bauten und der Peterskirche.
Zuweilen spielte uns Mama etwas auf dem Klavier vor. Groß war ihr Repertoire ja nicht und die drei italienischen Volkslieder oder "Die schöne blaue Donau" wurden stets mit freudigem Hallo begrüßt. Noch größer aber wurde die freudige Stimmung, und auch bei Mama selbst, wenn immer an denselben Stellen das Klavier anders tönte, als die Noten es wollten. An diesen Abenden erzählten wir Mama zuweilen von unseren Schulnöten und Streichen. Wir gaben ihr einen Vorbericht und prüften seine Wirkung, ab alles auch für Papas gestrengere Justiz geeignet sei. Für uns Jungens war es verhängnisvoll, dass Papa die Ansicht vertrat, dass Schularbeiten überflüssig seien, wenn man in der Klasse gut aufgepasst habe. Wir waren aber nicht solche Musterschüler und erfüllten die Vorraussetzungen nur mangelhaft, fühlten uns durch Papas Auffassung in unserer Faulheit nur bestärkt und erreichten zweimal nicht die Versetzung, bis wir überzeugt waren, dass Fleiß eine unumgängliche Gewohnheit zu sein hat.
 
Gern ließen wir uns auch aus Mamas über uns geführten Tagebuch vorlesen. Die darin sorgsamst verzeichneten Angaben über unsere Geburtsstunde, über unsere Körpergewichte in den ersten Monaten und Jahren, das Erscheinen der ersten Zähne, die Tauffeiern, der erste Schultag, die erste Klavierstunde, die Versetzungstermine, gemachte Beobachtungen an uns und besondere Äußerungen von uns, Schulausflüge, Masern und noch viele andere Aufzeichnungen fanden immer wieder unser größtes Interesse. Mama hat ihr Tagebuch über uns bis zu den Geburtstagen ihrer Enkelkinder fortgesetzt.
 
Mama ist uns eine urdeutsche Mutter gewesen, begeistert für ihr neues Vaterland und für sein Kaisertum, dessen Gründung und Ende sie erlebt hat.
Mit Stolz erzählt sie, dass alle ihre vier Jungen als "Pracht- und Ausstellungskinder" geboren worden seien, auch der kleine Georg, der wegen seines angeborenen Herzfehlers nach 5 Monaten uns wieder genommen worden war.
 
Ich wurde in Breslau, Schweidnitzer Stadtgraben 26, pt. Am 28. Dezember 1867 um 11 Uhr 25 Minuten mittags geboren.
 
Von meiner früh sich zeigenden musikalischen Veranlagung versprachen sich meine Eltern zunächst sehr viel. Ich soll mit 3 Jahren bereits Lieder und gewisse Opernmelodien so genau gekannt haben, dass ich mit unfehlbarer Sicherheiten den kommenden Schluss derselben 10 bis 20 Takte vorher unter Zeichen eigener Freude angezeigt habe. Die gute Veranlagung erhielt in der entscheidenden Zeit leider nicht die bestmögliche Förderung und Durchbildung. Bei allen musikalischen Empfinden und innersten Freude an der Musik blieb ich weit hinter den auf mich gestellten Erwartungen zurück, obgleich ich die Melodien nach dem Gehör schneller als durch Noten fand und alles alsbald mühelos auswendig spielte. Das Notenlesen hat mir immer Schwierigkeiten gemacht, auch in reiferen Jahren, als ich nochmals versuchte, es besser zu lernen.
 
Meine musikalische, wie auch die dichterische Veranlagung habe ich von meinem Vater geerbt. Dieser hatte sie von seiner Mutter und ich habe sie an Erhard weitergegeben. Von meinem Vater war nicht auf mich seine mathematische Veranlagung übergegangen, wohl aber auf meinen Bruder Walter. Sie ist dann wieder bei unserem Helmut zu Tage getreten und hat ihm bei seinen Lehrern und Mitschülern Anerkennung und ihm selbst Freude gebracht. Die vorzügliche rechnerische Veranlagung seiner geliebten Mutter hat m.E. bei Helmut die bei mir latent gebliebene mathematische Anlage wieder ausgelöst.
 
Erbbedingt war bei mir auch das schon in frühen Jahren sich zeigende Interesse an der Medizin und der Drang, an alles heranzukommen, was auf naturwissenschaftlichem Gebiet gelegen war. Ich hielt mir im kleinen Schuppen im Hof unseres Hauses Tiere aller Art, züchtete aus Froscheiern Frösche und entwickelte durch Ernährung/Kälte und Wärme/Experimente Abarten in Farbe und Größe. Ich sammelte die Eier fast sämtlicher europäischer Vogelarten, ferner Käfer und Schmetterlinge, Mineralien und Versteinerungen aus Kiesgruben. und Steinbrüchen und freundete mich mit den Tieren im Breslauer Zoo ebenso an wie mit den zuweilen dort vorgeführten exoti-schen Gästen, Nubiern, Lappen, Eskimos oder Indern und Indianern, den Liliputanern oder anderen menschlichen Abnormitäten. Selbstverständlich hatten auch die in Papas Sprech- und Studierstube in offenen Regalen bereit stehenden medizinischen Bücher und Atlanten eine ungeheuere Anziehungskraft auf mich. Ich zeichnete erst das Knochengerüst des Menschen ab, b
ald aber auch die inneren Organe und war von diesen Offenbarungen ebenso fortgerissen wie von den Wundern erster menschlicher Entwicklung. Zur damaligen Zeit erschien in einzelnen Liefe-rungen die erste Auflage von "Brehms Tierleben". Staunend und hingerissen von der darin geschilderten Entwicklungsgeschichte der Menschheit und von den Lehren vergleichender Naturwissen-schaft, erschienen mit die zu leistenden Schularbeiten un-interessant und nüchtern zum unbedingten Nachteil für mich, da in der damaligen Zeit die Naturwissenschaften auf dem humanistischen Gymnasium ebenso als Stiefkind galten und be-handelt wurden wie Sport und Turnen. Aber gerade zu diesen allen fühlte ich mich unwiderstehlich hingezogen, ohne da-durch Anerkennung oder gar Vorteil für mich zu haben, wie das heute der Fall sein würde.
 
Meine medizinischen Kenntnisse wollte ich natürlich an meine Klassenkameraden weitergeben. Ich las daher, ich war Quartaner, in den Pausen meine "Collegs", die sich einer großen Beliebtheit erfreuten, bis mir meine vermeintliche "venia docendi" nach notpeinlichem Verhör vor dem Direktor durch meinen Ordinarius brutal entzogen wurde. Eine Frau Philipp hatte sich sorgenvoll an den Schulgewaltigen gewandt und ihm klagend geschrieben, dass ich ihren Sohns, ja, die ganze Klasse total verdürbe. An Papa bekam ich einen Brief mit.
Nach feiger Gedanken bänglichem Schwanken und gedrängt von dem nach der Aushändigungsquittung verlangenden Ordinarius dem strengen stets im Diskant sprechenden Herrn. Dr. phil. Hoffmann übergab ich endlich am fünften Tage das Schreiben, auf dem Papa neben seinen Titeln und Würden auch als Kurator des von mir beglückten Johannes Gymnasiums verzeichnet stand.
Papa las das schreiben einmal, zweimal und sagte dann zu mir in ungewohnt ernstem Ton, der mir aber gar nicht ernst vorkamt "So etwas habe Ich von Dir doch nicht gedacht!"
Nach dem vorausgegangenen Wortschwall meines Direktors und nach dem noch schlimmeren meinen Ordinarius musste ich einen vernichtenden Bericht über die gewählten Themen und über mich befürchten. Der "hochzuverehrende Herr Professor" war aber nur gebeten worden, mir den Zutritt zu seiner Bibliothek zu verbieten, weil ich meine daraus entnommenen Kenntnisse an meine Mitschüler weitergegeben hätte und daran deren Eltern Anstoß genommen hätten. Ich empfand ja sogleich, dass Papa gar nicht so ärgerlich über mich war und als ich ihm zeigen musste, an welche Bücher und Bilder ich mich herangewagt hatte, da folgte ein befreiendes homerisches Lachen seiner-seits. Am Tage darauf bekam der fromme Philipp von mir und zweien meiner ehemaligen begeisterten "Schüler" ungehemmte Prügel, die wiederum einen Brief der Frau Philipp voller Klagen über mich an den Direktor auslösten und mir zwei Stunden Arrest einbrachten. Als ich sie beichtete, sagte Papa kein Wort zu mir. Ich aber empfand, dass er ganz auf mei
ner Seite stand. Das wurde mir am nächsten Tage zur Gewissheit als er von mir wissen wollte, ob die Prügel auch gut gesessen hätten.
 
Papa hat bestimmenden Einfluss gehabt, dass ich die Offizierslaufbahn ergriffen habe.
Bei meiner erbbedingten Veranlagung für Medizin und Naturwissenschaften hätte ich Mediziner werden müssen. Aber gerade im entscheidenden Jahr fehlte mir die unwandelbare Zielstrebigkeit, wie sie bei unserem Erhard immer und immer vorhanden gewesen ist. Auch war mein Interesse an den trockenen Schuldisziplinen stark erlahmt. Dazu kam, dass meine beiden Vettern, Hans und Walter v. der Hardt, als Fähnriche und Offiziere nicht nur durch ihr zweierlei Tuch die Weiblichkeit, sondern auch mich restlos begeisterten und dass sie mir zu sicherten, ihnen gleich zu werden, wenn ich ihnen nachfolge. Papa hatte damals gerade erbitterte Auseinandersetzungen mit der jüdischen Ärztegemeinschaft in Berlin und der total verjudeten Breslauer Universität wegen seiner bekannt werdende Kresot-Therapie. Schon damals war sich Papa bewusst, dass diese Angriffe gegen ihn deswegen so impertinent waren, weil seine politische Einstellung, wie sie sich in den von ihm unterzeichneten Wahlaufrufen zeigte, sich auch gegen
das Judentum richtete. Und gerade wegen der jüdischen Konkurrenz hatte mir Papa manchmal mehr, manchmal weniger, aber doch immer abgeredet Arzt zu werden.
Und noch ein anderer Moment kam hinzu. Papa war in seinem Füh-len und Denken Soldat und ein begeisterter Anhänger der Armee. Er kannte das Generalstabswerk über den Krieg gegen Frankreich von 1870/71 ebenso genau wie jeder aktive Offizier in damaliger Zeit.
(Sein Schwager, Ernst v. der Hardt, der Mann seiner Schwester Elisabeth war darin wegen seiner besonderen Tapferkeit in der Schlacht bei Wörth namentlich erwähnt, - eine seltene Gepflogenheit des Gen. Werks).
Und als einmal Papa bei einer Gesellschaft In Breslau einen sehr netten Feldartillerie-Oberst kennengelernt hatte, der für sein Regiment Offiziersanwärter aus bekannten schlesischen Familien suchte, da wurde diese Begegnung zur Sternenstunde meines Lebens. Ich wurde Offizier.
 
Ich habe diesen Entschluss niemals ganz überwinden können. Ich bin aber doch durchmeinen Beruf stets voll befriedigt worden, solange ich ihm in Friedens- und Kriegszeiten ange-hört hatte.
Es ist mir in ihm stets gut ergangen. Interessiert für den abwechselungsreichen Artilleriedienst, der immer auf guten, schnellen Pferden ausgeübt war, bereits nach 2 ½ Jahren zum Adjutant ernannt und vier Jahre in dieser bevorzugten Stellung belassen, jung Hauptmann und Chef geworden einer musterhaft guten, mir treu ergebenen Batterie, stets in angenehmem Verkehr mit meinen Vorgesetzten und Kameraden und zuletzt der Kommandeur an den Brennpunkten der Westfront eines sich in hervorragender Tapferkeit bewährten Regiments hatte ich innere Befriedigung. Ich habe ferner 2 bei meiner Waffe beliebte Bücher 7 Jahre lang herausgegeben, die auszugsweise mit meiner Genehmigung für die argentinische Armee übersetzt worden sind
Ich habe auch als Regimentskommandeur nur immer beste Erfahrungen mit den mir gern folgenden Unteroffizieren und Mannschaften gemacht. Auch in und nach den Revolutionstagen änderte sich nichts in dem guten Verhältnis zwischen uns. (Einschließlich der Munitionskolonnen unterstanden mir annährend zweitausend Mann.) Es war sicher ein gutes Zeichen, dass, um mich zu erfreuen, auf jedem Geschütz eine schwarz-weiß-rote Fahne angebracht worden war. Ich glaubte, meinen Augen nicht trauen zu können, als mir die geliebten Farben eines Tages im November 1918 überraschend entgegenwehten, die uns dann vier Wochen lang auf unseren Märschen durch Frankreich, Belgien und Luxemburg begleiteten.
Erst die "roten" Elemente in der Heimat nahmen sie uns herunter. Wir standen im schärfsten Gegensatz zu manchem bereits draußen "rot" gewordenen Infanterie Regiment, an dem wir vorbeikamen, aus dem uns Offiziere mancher gemeine Zuruf treffen sollte.
Den Soldatenrat, den ich auf Befehl der neuen Regierung und auf Anordnung Hindenburgs neben mich eingesetzt hatte, bat man mich, wieder aufzulösen. Als ich hiervon nichts wissen wollte, bildete ihn mir mein Regiment aus denjenigen Mannschaften, denen ich durch Dienst oder Frontkameradschaft näher getreten war und die ich besonders gern hatte. Obgleich ich mich vor jeder Bevorzugung gegen andere gehütet hatte, zeigte es sich doch auch hier wieder, dass der Untergebene ein sehr guter Beobachter seines Vorgesetzten ist. Ich war streng, aber gerecht, doch lies ich zu gegebener Zeit die Zügel lockerer, konnte außer Dienst das Vorgesetztenverhältnis vollkommen vergessen und hatte das Vertrauen aller. Das alles habe ich mir selbst jeweils vorgehalten, um Äskulap zu vergessen.
 
Sehr viel weniger Hemmungen hatte Heinz zu überwinden gehabt. Mit vollen Segeln strebte er der Offizierlaufbahn entgegen. Selbstverständlich trat er in meinem Regiment "als Anwärter mit Aussicht auf Beförderung zum Offizier" ein, wie es damals hieß. Unser Felda. Rgt. V. Clausewitz, mit den Garnisonen Neiße, Grottkau, Neustadt, Oberschlesien, hatte die Eigentümlichkeit, dass außer mir und Heinz in ihm gleichzeitig noch weitere vier Brüderpaare standen, die Brandt, die Krampff, die Eberhard und die v. Rudzinski. Die Väter der Kameraden waren entweder Gutsbesitzer, Akademiker oder ehemalige Offiziere.
Mit Heinz habe ich mich stets ausgezeichnet verstanden, obgleich wir beiden Brüder "grundverschieden" von klein an gewesen sein sollen. Wir wichen aber eigentlich nur im Grad unseres Empfindungslebens von einander ab. Heinz war der robustere, auch körperlich. Er war ein herzensguter Mensch, klug, witzig, ehrgeizig und allgemein beliebt, aufopfernd in seiner Freundschaft und treu, ein großer Lebensbejaher und den Freunden der Tafel außerordentlich zugänglich. Er war "ein rührend guter Sohn", wie ihn Mama stets bezeichnet hat. Heinz besaß die Herzensgüte und Klugheit aus dem elterlichen Erbgut, nicht aber so sehr auch die besondere Feinfühligkeit und Feinnervigkeit der mütterlichen Seite.
 
So kam es, dass er als ganz junger Leutnant im Jahre 1896 von Grottkau nach Saarlouis/Saarlautern versetzt werden musste, weil er es unternommen hatte, die Duellforderung eines Regimentskameraden an einen Gutsbesitzer zu überbringen. Das hätte nicht geschehen dürfen, wenn Heinz erkannt oder gefühlt hätte, dass der in seiner Ehre Verletzte der Gutsbesitzer und nicht der Leutnant gewesen war.
Seine jugendliche Unkorrektheit hatte man ihm aber im neuen Regiment bald verziehen und vergessen. Es blieb nur für Mama und uns Brüder das betrübliche Bewusstsein zurück, so weit von Heinz getrennt zu sein und ihn nur selten wiedersehen zu können.
 
Schon nach zwei Jahren darauf sollte er Abteilungs-Adjutant werden, ein sicheres Zeichen dafür, dass seine Tüchtigkeit in den neuen Verhältnissen sich durchgesetzt hatte und dass man seinen anständigen Charakter als Mittler zwischen Kommandeur und dem diesen unterstellten Offizierskorps verwenden wollte. In letzter Stunde kam es aber anders und zwar wieder nur durch seine eigene Schuld. Nach der sehr gut verlaufenen Besichtigung seines Regiments durch den Kommandierenden General fand vor diesem eine Cabaret-Vorführung statt, ähnlich den Aufführungen in der gesamten Artillerie am Barbaratage, ihrer "Schutzheiligen". Heinz trug selbstverfasste Couplets und Chansons vor, voller witzigen Anzüglichkeiten auf Kameraden und Begebenheiten. Leider versagte sein sonst fein und liebenswürdig wirkender Humor und Witz einem im Regiment unbeliebten Hauptmann gegenüber. Der Hieb gegen ihn saß so stark und war so drastisch und deutlich, dass der schwer gekränkte Hauptmann disziplinarische Bestrafung forde
rte. Diese erreichte er zwar nicht. Am nächsten Tage aber, an dem die Ernennung zum Adjutanten ausgesprochen werden sollte, eröffnete der Regimentskommandeur unserem armen, aus allen Himmeln fallendem Heinz, dass er wegen des in Frage stehenden Vorfalls statt einen anderen Offizier zum Adjutanten habe ernennen müssen.
Seiner Beliebtheit im Regiment und in der Garnison hat diese Enttäuschung nicht geschadet, aber verschmerzen hat er sie niemals gekonnt.
Heinz war sein Felda. Regiment von Holtzendorff (l. Rheinisches) Nr. 8 sehr ans Herz gewachsen. In ihm hat er vom Frühjahr 1896 bis zum Ausspruch der Mobilmachung 1914 frohe und erfolgreiche Jahre als Leutnant, Oberleutnant und Hauptmann verlebt. Er war der Batteriechef der von ihm musterhaft geführten und ihm treu ergebenen 3. Batterie. Vom Beginn des Weltkrieges bis Anfang Mai 1915 war er Kommandeur der II. Munitions-Kolonnen Abteilung des XXI. Armee Korps, das an der Westfront kämpfte.
Am 10. Mai 1915 wurde er zum Abteilungskommandeur der I. Abt. seines Felda. Rgt. 8 ernannt, die bei Augustowo (Russland) im Stellungskampf stand. Er führte seine Abteilung bis zum Sommer 1917. Krankheitshalber war er anschließend einige Monate Kommandeur einer Munitionsverwaltung einer Etappeninspektion. Wiederhergestellt, wurde er Abteilungskommandeur der II. Abteilung Felda. Rgts. Nr. 46 und bald darauf stellvertretender Regimentskommandeur dieses Regiments. Im Frühjahr 1918 wurde er zum Kommandeur des Felda. Rgts. 213 ernannt. Im Weltkrieg stand Heinz während der ersten 10 Monate an der Westfront, dann in Russland und in Rumänien.
Nach dem Krieg war er der sehr verehrte und beliebte Vorsitzende der Offizier- und Mannschaftsvereinigungen vom Regiment von Holtzendorff. Er schrieb dessen Geschichte und brachte sie im Februar 1931 heraus. Nach Sachlichkeit, Umfang und Ausstattung ist sie eine der besten veröffentlichten Regimentsgeschichten.
Heinz heiratete am 22. Juni 1910 Helene Engelhard aus Frankfurt/M. Seine Ehe ist kinderlos geblieben. Sie war glücklich. Von 1919 bis 1931 lebte Heinz in Lohr/M., wo seine Frau von ihrem Onkel Friedrich Fay auf dem Valentinusberg eine Villa mit großem Obstgarten geschenkt bekommen hatte.
Von Lohr/M. siedelte Heinz nach Garmisch über. Nach dem Aufenthalt im kleinen fränkischen Städtchen und dem Leben in landwirtschaftlicher Betätigung wollte das Ehepaar wieder mehr Kultur und Anregung um sich sehen. Ihre Villa auf dem Valentinusberg verkauften sie und fanden in Garmisch, Waxensteinstr. 1 in der 1. Etage einer Villa eine ihnen sehr zusagende Wohnung. Bald nach der Umsiedlung stellten sich bei Heinz leider die ersten Zeichen des Nachlassens seiner bis dahin so guten Gesundheit ein. Eine Nierenerkrankung begann sich merkbar zu machen, der er in seinem 63. Lebensjahr, am 18. Juni 1933 erlegen ist. Sie war auch die gleiche Todesursache bei unserem Vater und unserem Bruder Walter gewesen.
 
Im Kreise von nachmittags bei ihm zu Gaste weilenden guten Freunden, im Lehnstuhl sitzend, ist er plötzlich friedvoll und kampflos entschlafen, während der Unterhaltung.
 
Auf dem landschaftlichen so schön gelegenen Friedhof von Garmisch, hinschauend nach den herrlichen Bergen hat er seine letzte Ruhestätte gefunden, an der Stelle, die er selbst noch für sich ausgewählt hatte.
 
Ich und Heinz waren in unserem Beruf "selfe made man". Seit unserem Ur-Urgroßvater, dem Oberpfarrer und Superintendanten in Peitz i. Lausitz, sind alle unsere Ahnen von Vaters Seite her Akademiker gewesen. Dadurch fehlte uns die berufliche Tradition. Alle Vorteile, die sich daraus ergeben hätten, gingen uns verloren. Erfahrungen konnten nicht von uns übernommen, sondern mussten mit Lehrgeld erst neu gesammelt werden. Bis sie sich auswirken konnten, verpassten wir Zeit, die von erfahreneren Kameraden besser und zielbewusster ausgenutzt werden konnte als von uns in den entscheidenden Jahren bis zum Hauptmannspatent.
 
1889
Am 21. September 1889 war ich zum "Seconde-Lieutenant" befördert worden. Am 1. Oktober zog ich mit der neu aufgestellten III. Abteilung meines Felda. Rgts. Von Clausewitz, vom Schiessplatz Lamsdorf kommend, in unserer neuen Garnison Neustadt O/S ein. Wir lösten die 6. Husaren ab, die seit den Befreiungskriegen inmitten der überaus militärfreundlichen Einwohner hier gestanden hatten. Das neue erwies sich auch bei uns wieder als das Begehrenswertere; die gesamte Bürgerschaft schwenkte sogleich zu uns über und bemühte sich, ihren Frontwechsel unter Beweis zu stellen. Bei den Familien in der Stadt und Land, wo wir den Verkehr aufnahmen, entzückte uns die bekannte, oberschlesische, große Gastfreundschaft. Bei der gesamten Bevölkerung war der österreichische Einschlag unverkennbar; sie war lebensfroh und liebenswürdig und nahm das Leben von seiner besten Seite. Auf dem Marktplatz zeigte der Brunnen noch immer den Habsburgischen Doppeladler und plätscherte wie schon zu Zeiten Maria-Theresias das
Wasser in sein hohes Becken, und nach der österreichischen Grenze ritten wir nur 20 Minuten, wenn man trabte.
Nach der strengen Fähnrichzeit auf der Kriegsschule Anklam und auf dem einsamen Schiessplatz Lamsdorf nahm ich den romantischen Kleinstadtzauber willigen Herzens in mich auf. Dazu kam die schöne nahe und weite Umgebung von Neustadt, die mit der Umgebung von Wiesbaden Ähnlichkeit besitzt. Die nahen Berge aber erheben sich bis zur 800 m hohen Bischofskoppe und das entfernte Altvatergebirge trug auch im Juni noch Schnee, dessen weite Flächen aus dunklen Tannenwäldern weithin leuchteten.
 
1891/92
 
Ich fühlte mich in jeder Beziehung wohl in Neustadt. Dann kam nach den ersten beiden Jahren strammen Dienstes als Rekruten-Offizier mein Kommando für 6 Monate nach Berlin zum letztmaligen, abgekürzten Kursus der vereinigten Artillerie- und Ingenieurschule.
In diese Zeit fiel am 14. März 1892 der 25. Hochzeitstag meiner Eltern, den sie mit mir zusammen feiern kamen, um in Breslau den vielen Gratulanten auszuweichen. Papa fühlte die ersten Anzeichen nachlassender Spannkraft.
Unmittelbar daran anschließend erfolgte im Mai 1892 meine Ernennung zum Adjutanten der III., detachirt in Neustadt stehenden Abteilung meines Felda. Rgts. Von Clausewitz (1.Oberschlesischen) Nr. 21. Anschließend an diese vierjährige, schöne Zeit werde ich nach Neiße, der Stabsgarnison unseres Rgts., versetzt und stand dort von Oktober 1895 bis Oktober 1899, auch hier wiederum in dienstlich, kameradschaftlich und gesellschaftlich angenehmsten Verhältnissen.
 
1896
 
Im September 1896 erhielt ich meine Beförderung zum "Premier-Lieutenant".
 
1897
 
Ab Februar 1897 war ich auf 4 Monate zu Felda. Schiessschule kommandiert.
 
1899
 
Das Jahr 1899 brachte meiner Waffe die große Vermehrung, wodurch bei uns in Oberschlesien ein neues Rgt. Entstand, das aus der bisherigen III. Abt. Nr. 21 in Neustadt und einer im nahen Oberglogau neu aufgestellten Abteilung gebildet wurde und die Bezeichnung: Zweites Oberschlesisches Felda. Rgt. Nr. 57 erhielt.
In dieses Rgt. Werde ich am 1.10.1899 von Neiße aus versetzt.
 
1900
 
Meine Garnison wird also wieder Neustadt, bis ich am 1. Oktober 1900 zum Hauptmann und Batteriechef befördert werde und die 6. Batterie in Oberglogau erhalte.
 
1902
 
Dorthin folgte mir meine geliebte Frau und in diesem Nest, der an Kleinheit und Primitivität nicht mehr zu unterbietenden Garnison, verbringen wir, in ihrer sog. Schönsten Villa, über dem Offizierscasino wohnend, das erste glückliche Jahr unserer weiteren so glücklichen Ehe.
 
1903
 
Als am 1. April 1903 die Oberglogauer Abteilung nach Fertigstellung der neuen Kasernen nach Neustadt verlegt wurde, da halte ich zum zweiten Male mit meiner Truppe meinen festlich, von der Stadt gegebenen Einzug in deren Mauern. Ich war der einzige Offizier im Regiment, dem das widerfuhr. In seiner Festrede erwähnte es besonders der Oberbürgermeister Engel und begrüßte mich als "alten Neustädter" äußerst herzlich.
Mit der Hauptmannwürde brachte ich jetzt meine geliebte junge Frau und mein erst wenige Wochen altes Töchterlein mit. Im Hause Promenade 6, einem mehr durch Grundriss als durch Ausstattung grosstädtischen Neubau, finden wir die uns zusagende Unterkunft. Einzigartig schön ist der Blick über die bis zum Wald am Fuße der Vorberge reichenden ausgedehnten Promenadenanlagen und die Fernsicht am Gebirge entlang, wohl 20 Kilometer weit, über die wie ein Garten anzuschauende Landschaft.
Die kommenden 10 ½ Jahre bringen uns einen sehr großen Zuwachs unseres Glückes, werden uns hier doch unsere drei Jungen geboren. Wie freudig und beseligt hatte Mieze sie mir geschenkt, unbekümmert darum, dass deren Ankunft nicht für spätere Termine abgewartet worden war, mutig und tapfer die verdoppelte Mühe und Arbeit auf sich nehmend, wenn jeweils immer zwei Kinder mit nur zwölfmonatigem Altersunterschied liebevoll zu betreuen waren.
In dem durch Höhenlage und die nahen Tannenwälder gesunden Klima wachsen unsere vier "Pracht- und Ausstellungskinder" vortrefflich heran. Sie lassen uns vergessen, dass wir in der Kleinstadt kulturell auf sehr vieles verzichten mussten, was sonst das Leben verschönt und angenehm macht.
In diese Zeit fällt die schwere Erkrankung und der Tod am 17. Mai von Miezes Vater.
 
1912
 
Während der 12 Jahre, in denen ich Chef meiner 6. Batterie war, hatte icj niemals die geringste dienstliche Enttäuschung. Meine sämtlichen Mannschaften waren vom dritten und vierten Jahre an meiner Batteriechefzeit nur Freiwillige. Sie kamen aus bestimmten schlesischen Dörfern und stellten mir jedes Jahr stets wieder neue Freiwillige. Hierdurch wurden anerkannte Höchstleistungen leicht erreichbar. Meine Unteroffiziere haben mich lange Jahre über dem Weltkrieg hinaus an ihrem Ergehen teilnehmen lassen.
 
1913
 
Nachdem ich ein Jahr "Überzähliger Hauptmann" beim Stabe meines Regiments 57 im Anschluss an meine Batteriechefzeit gewesen war, wir meine neue Garnison Posen. Hier bin ich im 1. Posenschen Felda. Rgt. Nr. 20 Major beim Stabe.
Auch hier wieder nur angenehme dienstliche und kameradschaftliche Verhältnisse. Die Stadt selbst ist nach Ruf und Wirklichkeit ein "kleines Paris", und wird als Bollwerk für deutsche Kultur und als Wahrzeichen kaiserlicher Macht gegen das sich wieder regende, zusammen mit dem Katholizismus heimlich gegen Deutschland schürende Polentum in jeder Weise von der Reichsregierung bevorzugt und versorgt. Die imposanten neuen Bauten um die hochragende, trutzige Kaiserpfalz, (die Akademie, das Theater, die Ansiedelungskommission, das Regierungspräsidium, die Oberpostdirektion) zeigen unseren Willen, nicht mehr von hier zu weichen.
 
1914
 
Schon am 21. März 1914 werde ich als Major und Abteilungskommandeur nach Metz versetzt, wo selbst ich die I. Abt. Felda. Rgts. Nr. 34 erhalte. Ich hatte die Wahl zwischen Bromberg und Metz gehabt. Sie fiel mir nicht schwer. Der Westen war schon lange mein erstrebenswertes Ziel gewesen, nicht zuletzt wegen der klimatischen Bevorzugung gegen den Osten.
 
März 1914
 
Wie anders als Posen wirkte Metz auf mich ein! Ich schien mir bereits in Frankreich zu sein, so fremd wirkten Menschen, Bauten, Sprache und Klima auf mich ein. Posen hatte ich bei 10 Grad Kälte verlassen, hier blühten schon Seidelbast und Veilchen und die Menschen promenierten in Frühjahrskleidung im warmen Sonnenschein auf den Straßen und den schönen Anlagen längs der Mosel.
Teils durch die besonderen Verhältnisse als Grenzkorps gegen Frankreich, teils aber auch aus zunächst noch unerkannten Gründen, war der milit. Dienst hier angespannter als im Osten. Es gab dadurch viel Abwechselung. Bulgarische oder österreichische Offiziersabordnungen erschienen, denen Gefechte vorgeführt wurden. Unter Leitung des Kronprinzen fand eine große Generalstabsreise mit Metz als Mittelpunkt statt, und der Kaiser, von Korfu und seinem märchenhaft schönen Schloss dort, kommend, weilte hier und besichtigte die in der Stärke von 1 ¼ Armee-Korps garnisonierenden Truppen in einer großen Gefechtsübung mit anschließender Parade. Metz hatte die modernsten Forts und seinen "Zeppelin", der eine besondere milit. Sehenswürdigkeit damals galt.
 
Unvergesslich wird es mir immer bleiben, mit wie großem Interesse unser 10 Jähriges Hansel allen militärischen Eindrücken folgte und wie passioniert und stramm er infanteristische Griffe und Bewegungen im Garten unserer Villa, Parkstr. 11, nachzumachen verstand. Ich glaube gern, dass sich daraus ein tieferes militärisches Interesse würde entwickeln können.
 
Mai 1914
 
Langsam zieht der Weltkrieg herauf, ohne den Unkundigen zu warnen. Schon Anfang Mai 1914 übersiedelt mein Regiment nach dem Truppenübungsplatz Bietsch in den Vogesen, um seine vierwöchige Schiessübung abzuhalten. Was ich bisher niemals hinausgeschoben hatte, das hole ich hier, nachdenklicher durch die mir fremden Verhältnisse geworden, beschleunigt nach, was ich schon in Neustadt gewollt hatte. Ich versichere mich bei der Leipziger Lebensversicherung A.G. auf RM 100.000 ,--, um hierdurch auch noch ein Mehrer unseres Kapitals gewesen zu sein, wie das mein Vater und Schwiegervater ja auch gewesen sind. (s.: meine Denkschrift: "Soll und Haben").
 
August 1914
 
Sofort nach Ausspruch der Mobilmachung am 1. August 1914, 16 Uhr, eilte ich in die Kasernen meines Regiments, da meine Abteilung zu denjenigen kleineren Einheiten gehört, die schon 6 Stunden darauf den artilleristischen und infanteristischen Grenzschutz zu übernehmen hatten. Bereits am 1. August 1914, um 10 Uhr abends, muss Mieze mit den Kindern die Festung verlassen. Ihr Ziel ist Frankfurt/M. Ein letztes Wiedersehen am Zuge wird möglich, weil das Metzer XVI. Armee-Korps aufgrund zunächst geheim gebliebener Befehle erst am 17. August zur Umfassung von Verdun vorzumarschieren hatte.
Am 22. August kommen wir in erste Berührung mit dem Feind. Die schweren Grenzschlachten beginnen.
Am 24. August erhalte ich und meine I. Nr 34 bei Bouvigny die Feuertaufe im Artillerieduell mit schweren franz. Batterien.
 
September 1914
 
Am 1. September überschreiten wir am frühen Morgen die Maas. Die Schlacht bei Dannevoux unweit des Flussufers entbrennt bei glühender Sommerhitze und wird zur schwersten Schlacht für mein Regiment und mich im Weltkriege.
Mein XVI. Armee Korps erst teilweise übergesetzt und noch nicht entfaltet wir konzentrisch von zwei feindlichen Armee-Korps angegriffen, um in und über die Maas zurückgeworfen zu werden. Am Abend war der Ring um uns mit dem Fluss im Rücken durch uns gesprengt.
Ja diesen beiden ersten Tagen hatte mein Regiment 17 tote oder verwundete Offiziere, 62 t. oder v. Unteroffiziere, 112 t. oder v. Mannschaften, 191 t. oder v. Pferde.
Ich erhielt das Eiserne Kreuz II.
Und dann folgen bis zum bitteren Kriegsende weitere 218 Schlachten und Gefechte. Die dienstlichen Ausweise und die Regimentsgeschichte wie auch meine Personalpapiere geben hierüber genauere Kunde.
Für mich gliederte sich meine Tätigkeit im Weltkriege in zwei Abschnitte, je nachdem ich als Abteilungskommandeur oder ab September 1916 als Regimentskommandeur meine mir unterstellte Truppe geführt habe.
Als abt. Kdeur. von I./34 halte ich nach den Grenzschlachten und den Kämpfen um Verdun und Varennes mit meinen drei Batterien den Schlüsselpunkt für die östlichen Argonnen, Vaugois, unweit Varennes. Die gesamte Front ist von jetzt ab zum Stellungskampf erstarrt.
 
Oktober 1914
 
Als ich vier Jahre später mein Regiment 269 (S. 76) unweit Varennes ins Feuer führe, fallen noch immer genau wie einst die schweren Einschläge auf den hochrangigen Berg und liegen über ihm die weißen Wolken platzender Schrapnells, nur dass vom Dorf Vauquois nichts mehr zu sehen ist. Der Feind hat diese Stellung niemals bezwingen können!
 
Februar 1915
 
Der am 17. Februar 1915 von den Franzosen mit 7 Regimentern auf Vauquois angesetzt gewesene Großangriff nach dem überhaupt ersten Trommelfeuer im Weltkrieg bricht unter schwersten Verlusten für den Feind zusammen. Der Kommandierende General von Mudra überbringt mir persönlich in der darauf folgenden Nacht als erstem Offizier meines Regiments das Eiserne Kreuz I. oben auf Vauquois.
 
April 1915
 
Am 30. März 1915 werde ich als Abteilungskommandeur zum neu aufgestellten Felda. Rgt. 237 versetzt und erhalte die I./237. Mit mir treten vom alten Rgt. 34 für den kommenden Bewegungskrieg besonders geeignet erschienende Offiziere, Mannschaften und Pferde über. Wir gehören zur Armee des Feldmarschalls v. Mackensen, die sich in und um Mörchingen formiert. Mein Rgt. 237 gehört zur 119. Infant. Division.
 
Mai 1915
 
Am 2. mai 1915 stehe ich in der großen Durchbruchsschlacht durch die russische Front bei Gorlice-Tarnow. Eine soldatische unvergleichlich schöne Zeit nimmt hier ihren Anfang. Wir treiben unaufhaltsam bis in den Oktober die Russen vor uns her. Infanteristisch wehrt er sich heldenhaft. Seine Artillerie ist zwar gut, ist jedoch ohne Ersatz für die vielen Ausfälle geblieben und es mangelte ihr an Munition.
 
Unvergesslich jener Nachtmarsch in den ersten Maitagen über den Duklapass über die Karpathen. Neben uns die schäumende, bald von weiten Weidenbüschen umstandene Jasiolda. Vollmondschein, kein Schuss weit und breit. Und um uns ununterbrochen, stundenlang, Nachtigallensang in berauschender, alles übertönender Symphonie ohne Ende bis das Morgenrot diesen Liebestraum versinken ließ. Man vergaß, im Krieg zu sein.
 
Aber schon beginnt am nun aufsteigenden 6. Mai der besonders schwere Kampftag um die Naphtahöhe, die uns den Asutritt aus dem Gebirge verwehren sollte. Ende Mai erobern wir die galizische Festung Prezemysl. Beim Erkunden der Stellungen für meine Batterien schleudert mich der Luftdruck einer schweren, aus der Festung kommenden, russischen Granate in eine sog. Wolfsgrube. Einer der spitzen, scharfen Pfähle reißt mir ein Loch in die Stirn, doch kann ich bei meiner Truppe verbleiben. (23. Mai 1915)
 
Anlässlich der Rückeroberung von Prezemysl wird mir der K.u.K. österreichische Militärverdienst-Orden mit der Kriegsdekoration verliehen.
 
Juli 1915
 
Ende Juli erobern wir den Österreichern die schöne Stadt Lemberg zurück.
 
August 1915
 
Ende August fällt die starke Festung Brest-Bitowsk in unsere Hände, nachdem sie von den Russen vor ihrem Rückzug in ein Flammenmeer verwandelt worden war, das so weit man sehen konnte, den umwölkten Nachthimmel blutrot färbte. Weiße Blitze beleuchten jedes Mal taghell für Sekunden die Szenerie, wenn die Munitionsmagazine in der weiten Außenforts oder nahe der Stadtumwallung, von den Russen angesteckt, in die Luft flogen.
 
Im Forts. I., in dessen Hof ich mit meinen Batteriechefs nach durchwachter Nacht eine kurze Rast im weiteren Vormarsch einschalten kann, brennen noch alle elektrischen Lampen, im Samowar der Offiziersmesse dampft noch das Wasser, auf dem Esstisch stehen noch halb gefüllte Schüsseln. Wie plötzlich muss der Befehl zur Räumung dieses die Übergänge über den Bug schützen sollenden starken Werkes erteilt worden sein! Alle nicht unter Beton und Stahl aufgestellten Geschütze waren allerdings in letzter Minute in den Wallgraben hinunter gestürzt worden.
Hoch über der Stadt zog ein Zeppelin seine Kreise. Er erkundete. Er scheint uns einen Gruß aus der Heimat zu bringen.
Immer weiter folgten wir den unablässig zurückweichenden Russen. Zuweilen konnte erst nach Mitternacht gerastet und abgekocht werden.
Mein Pferd bricht unter mir an Erschöpfung zusammen und verendet wenige Minuten darauf. Nur wenige Male trat uns schwerer Wiederstand entgegen, doch häuften sich unsere Verluste in den unermesslich weiten Wäldern, die mit ihrem mit Rasen bewachsenen Untergrund englischen Parkanlagen glichen.
 
September 1915
 
Schwierig gestaltete sich auch der Durchzug durch die Pripjet-Sümpfe, die nur auf den kilometerlangen, schnurgerade hindurchführenden Strassen passiert werden konnten. Auf ihnen aber lag dauernd feindlicher, Verluste bringender Beschuss.
Bis an die Städte Minsk und Pinsk und fast bis zum Narocs-See reicht die Kraft unseres am 2. Mai bei Gorlice erfolgten, erstmalig frontal geführten Durchstoßes durch das sorgsam ausgebaute starke russische Stellungssystem.
 
Ende September wird es bereits empfindlich kalt. Ein erfolgreicher Sommer geht zu Ende. Nur viermal waren leichte Gewitter auf uns herunter gegangen. Immer habe ich in meinem Zelt genächtigt. Die Gutshäuser und Schlösser waren stets von den Russen angezündet gewesen und bis auf die Grundmauern ausgebrannt. Die Bauernhäuser, soweit sie nicht auch niedergebrannt waren, steckten voller Ungeziefer.
Die Armee Mackensen geht zum Stellungskampf über, in dem sie einen ruhigen Winter verbringt.
 
April 1916
 
Mieze siedelt mit den Kindern von Metz, wohin sie im November 1914 zurückkehrte, nach Bad Kreuznach über, weil die Angriffe feindlicher Flieger sich steigern und Metz beschossen wird. Ein Blindgänger war dicht am Ausgang das botanischen Gartens niedergegangen, dem unser Fräulein Martha ("Mume") mit Erhard und Helmut gerade eilends zustrebten.
 
August 1916
 
Ein neuer Abschnitt im Kriege beginnt für mich.
Am 26. August 1916 bin ich zum Kommandeur des neu aufgestellten Felda. Rgts. Nr. 269 durch A.K.O. ernannt worden. Mein Regiment gehört zur gleichfalls neu aufgestellten 211. Infanterie-Division. Sie untersteht dem General v. Lewinski. Während der drei Wochen, die mir zur Formierung des aus den verschiedensten Gauen stammenden Regiments verbleiben, spreche ich mit jedem Unteroffizier und Mann, sie eingehend über ihre häuslichen Verhältnisse und über ihre bisherige militärische Verwendung befragend. Der Konnex war hierdurch sofort hergestellt und blieb er auch in und nach den Revolutionstagen bis Demobilmachung am 5. Februar 1919, in Diepholz bei Bremen bestehen.
 
September 1916
 
Die Feuertaufe erhalten wir am 26. 9. 1916 bei Monchy, im Nordflügel der bereits langsam verklingenden Somme-Schlacht, nördl. Bapaume, unweit von Arras. Die Leistungen meines 2 ¼ Jahre an der Westfront kämpfenden Regiments sind in der Regimentsgeschichte festgelegt. Sie konnte nur durch die entscheidende Mithilfe der namentlich genannten Kameraden herausgebracht werden. Meine den beiden Büchern vorangestellten Geleitworte drücken das besonders aus. (s. Bücherei des Archivs)
 
Der ruhige Winter 1916/17 hierauf vor Soissone schließt mein Regiment durch Fronterfahrung, Dienst und Kameradschaft zu einem Stahlharten Block zusammen.
 
März 1917
 
Nach dem genialen strategischen Rückmarsch hierauf im Frühjahr 1917 in die "Siegfried-Stellung" von Arras bis zum "chemin des dames" mit nur leichteren Nachhutgefechten wird unserer 211. Division der ehrenvolle Auftrag, sich im Brennpunkt der zu erwartenden Kämpfe, bei Laffaux, zum hartnäckigsten Widerstand bereit zu stellen. Die gesamte Westfront verläuft von der Nordsee bis Laffaux in nördlicher Richtung. Hier schwenkt sie nach Osten zum "chemin des dames". Laffaux liegt mithin genau im Scheitelpunkt der ganzen Westfront. Wir wissen, dass uns ein wichtiger Teil anvertraut ist.
 
April 1917
 
Am Karfreitag, am 6. April 1917 beginnt die erwartete große Doppelschlacht an der Aisne und in der Champagne, und tobt auch bei Laffaux in unverminderter Stärke bis zum 18. April. Meine Batterien vollbringen dabei Wunder an Tapferkeit. Am Morgen des 16. April erhebt sich die französ. Infanterie aus ihren Gräben zum vermeintlich entscheidenden Sturm gegen uns, wie gegen unsere oben auf dem "chemin des dames", links von uns eingesetzten Nachbar-Divisionen. Der Tagesbefehl des General Nivelle feuerte sie ein letztes Mal an: "L´heure est venue! Confiance! Courage! Vive la France!"
 
Fünftausend feindliche Geschütze lassen ihren Eisenhagel 12 Tage und Nächte auf unsere Batterien und die Kampfstellungen der Infanterie niedergehen, das Feld vor ihnen in giftige Gase gehüllt und ringsherum von Granaten umgepflügt. Alle Anmarschstrassen liegen gleichfalls Tag und Nacht dauernd unter feindl. Beschuss. Nicht minder auch unsere Beobachtungsstellen und Befehlsunterstände. Munition und Verpflegung können nur durch rücksichtslosesten Einsatz aller bis zu den Feuerstellungen gelangen. Sogar die Offiziere beteiligen sich am Herbeitragen Nacht für Nacht, wenn die Pferde getroffen oder erschöpft, mit dem Munitionswagen nicht mehr bis in die Stellungen gelangen können. Kein Dank von mir und keine Anerkennung erscheint mir groß genug, wenn ich von den Batterien ihre Erlebnisse jedes Mal erzählt bekommen hatte.
Den eisernen Wall, den wir errichtet hatten, er hält auch diesem Ansturm stand!
 
Mai 1917
 
Unter unserer Abwehr versank die französische Armee vor uns in Niederlage und Entmutigung. Aber zum Gegenstoß fehlten uns jetzt die Reserven. Sie hätten uns die Kriegsentscheidung gebracht!
 
Vierzig Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften aus den Reihen des Regiments sterben für Kaiser und Reich den Heldentod. Dreiundzwanzig Offiziere, Unteroffiziere und Kanoniere erwarben sich die hohe Auszeichnung des E.K. I.
Ich erhalte das Ritterkreuz das Königlichen Hausordens von Hohenzollern mit Schwertern. (Verliehen am 28.5.1917)
 
Vortrefflich bewährte sich aber auch der im Regiment herrschende Geist bei der bald darauf in zurückverlegten Stellungen unternommenen Sammlung für die Kriegsanleihe. Das Ergebnis, an dem alle Teile beteiligt waren, betrug 106.00 ,-- Mk. und sechs Monate darauf nochmals weitere 161.00 ,-- Mk.
 
Sommer 1917
 
Bald stehen wir erneut auf dem "chemin des dames" in Stellung. Von jetzt ab bleibt der Turm der schönen Kathedrale von Lâon unser rückwärtiger Blickpunkt. Die Stadt Lâon ist auf einer steilaufsteigenden, kleinen Felsinsel gelegen, unten um sie herum die weiten fruchtbaren Felder und Obstgärten, wo einst das Kreidemeer der Juraperiode unserer Erde gebrandet hat. Wo wir auch in Stellung stehen, immer sehen wir als Wahrzeichen der Gegend bis zu 10 km im rückwärtigen Mittelpunkt von uns entfernt die hochragende Kirche, von wechselnden Seiten. Bis wir zur "Großen Schlacht in Frankreich", im März 1918 abmarschieren, bleiben wir auf und am "chemin des dames" eingesetzt. Auf ihm erleben wir den Tag des einjährigen Regimentsbestehens.
 
September 1917
 
Mein Divisionskommandeur verehrt mir sein Bild mit Widmung. Ich erlasse am 5. September 1917 nachstehenden Regimentsbefehl (Gefechtsstand Collogis-Höhle)
 
"Kameraden!
Am heutigen Tage ist ein Jahr verflossen, seitdem das Regiment zum ersten Male zusammentrat.
Ein Jahr freudig geleisteten, schweren Dienstes und hingebender Treue liegt hinter Euch, um das Beste für Kaiser und Reich zu vollbringen.
Seitdem das Regiment seine Feuertaufe erhielt, hat es bei jeder Gelegenheit ruhmvoll gekämpft und unverwelklichen Lorbeer sich errungen, sei es im herbst im Artois, im Winter vor Soissons oder es im Frühjahr dieses Jahres galt, den mit vielfacher Übermacht begonnenen, immer wieder erneuten Durchbruchversuch des Gegners auf den Höhen von Laffaux, Vaudesson scheitern zu lassen.
Eisern war der Wall, den Euer Siegeswillen, Eure Treue bis in den Tode errichtete, unbezwinglich Eure Batterien, keiner von Euch wankte, weil Heldenmut Euch belebte.
So wird es auch in aller Zukunft sein, dessen bin ich gewiss. Ihr werdet welsche Tücke und englische Habgier und wen es sonst von unseren Feinden nach deutschem Gut und Boden gelüstet, zusammenschlagen, auf dass unser geliebtes Vaterland frei und stolz nach einem Deutschen, ehrenvollen Frieden emporsteige.
Mit Gott für König und Vaterland, für Kaiser und Reich, das sei unser Wahlspruch auch im neuen Regiments- und Kriegsjahr."
 
Nach ruhigem Winter mit Schiess- und Gefechtsübungen im Steppengebiet beginnt am 21 März 1918 die "Große Schlacht in Frankreich".
 
März 1918
 
Zur 18. Armee gehörend, stellt sich mein Regiment im Raume zwischen St. Quentin und La Fére bereit. Meine Division ist Angriffsdivision. Letzte Instruktionen und Befehle. Wir wissen, dass uns nach der Erstarrung des Grabenkrieges endlich, endlich der kriegsentscheidende Bewegungskrieg bevorsteht. Unser Stoß soll die Nahtstelle zwischen Franzosen und Engländern treffen. Unbemerkt vom Feinde ist unsere und der Infanterie massierte Aufstellung vor sich gegangen, kaum fassbar; aber die Räder waren mit Stroh umwickelt und die Fernsprecher ausgeschaltet, damit der Feind sie nicht abhören kann. Kommandos durften nicht mehr erteilt und nur nachts marschiert werden, bis um 4 Uhr 40 Minuten der Orkan der Artillerieschlacht beginnt.
Langsam wird es Tag. Dichtester Nebel umgibt uns alle, aber die Feuerwalze mit ihren mathematisch genau für jede Batterie errechneten Flugbahnen bereitet unserer Infanterie trotz Nebels den Weg. Die Grundlagen für unser Schiessen sind sorgsamst mit den für die stürmende Infanterie vorgeschriebenen Wege und Zeiten vorher in den eingehenden Besprechungen mit den Kommandeuren in Übereinstimmung gebracht worden.
 
Der Feind erwidert unser Feuer nur schwach, die Verluste sind bei ihm vernichtend, in meinem Regiment und bei der Infanterie aber nur gering, außer in einer Batterie. Die eigene Infanterie stürmte daher unaufhaltsam vorwärts. Aber nur drei Batterien dürften sie zunächst begleiten. Die anderen Batterien von mir müssen die alten Stellungen drei Tage lang halten, damit sie unserer Infanterie im Falle eines Rückschlages Halt geben können.
 
Doch dann eilen auch sie vor. Die aufgerissene Nahtstelle zwischen Engländern und Franzosen wird zur Lücke. Die englische 5. Armee ist vernichtend geschlagen. In Paris war bereits alles, wie im September 1914 vor der Marneschlacht zur Flucht vorbereitet.
 
Der mit soviel Hoffnungen und Erfolgen begonnene Angriff kommt am 28. März 1918 aber zum Stehen. Es fehlen uns auch jetzt wieder die Reserven.
 
April 1918
 
An der Oise müssen wir daher erneut zum Stellungskampf übergehen.
 
Mai 1918
 
Doch noch einmal, am 26. Mai erhebt sich unser Frontteil zu neuem Schlage.
Während unsere Nachbardivision links von uns über die Kammhöhe des "chemin des dames" über Soissons hinaus bis zum großen Wald von Villers-Cotterets vorstürmt, rücken wir gleichzeitig mit unserer 211. Division zügig in Richtung der Marne vor.
 
Juni 1918
 
Auf den Höhen von Nampoel prallen wir mit starken französischen Kräften zusammen.
Nach Tagen schwersten, für uns erfolgreichen Ringens geht es weiter vorwärts. Copiegne -mit seinem Schicksalswald- tritt bereits als nicht mehr allzu weites Ziel des Heldenganges auf.
Und hinter ihm liegt Paris!
Aber die infanteristische Kraft vermag nicht mehr das letzte hohe, kriegsentscheidende Ziel zu erreichen.
 
Juli 1918
 
Und wieder muss meine Division zum Grabenkampf, zur Abwehr, zurückkehren. Wir stellen uns zwischen Oise und Marne in neuer Frontlinie auf. Gleiches trifft auch unsere Nachbardivisionen vor dem Wald von Villers-Cotterets.
Darauf aber kommen wir in eine vollkommene Ruhestellung, die weit zurückgezogen, bei Sinceny, an den Zwillingsbergen, gelegen ist. Sie wäre für Menschen und Pferd wohl verdient gewesen!
Doch nur 24 Stunden dürfen wir uns dieser erfreuen.
Jetzt in beträchtlicher Entfernung von uns, aus den großen Waldungen bei Vitters-Cotterets, droht Unheil.
Die Vermutung wird zur Gewissheit, dass dort zusammengeballte, übermächtige feindl. Kräfte, durch den Wald vor Sicht gedeckt, sich zum Sprung bereit gestellt haben.
Gegen Abend des 12. Juli erreicht mein Regiment in den eben bezogenen Ruhelagern der Befehl zur Alarmbereitschaft.
Ich reite sogleich mit meinem Stabe zur neuen Front vor. Die um 2 Stunden voraus gestellte Sommerzeit macht die Nacht zum Tage. Bekannte, für mich bedeutungsvolle Stationen ziehen während des eiligen Rittes wieder an mir vorüber.
La Motte, das Sommerschlösschen eines Pariser Metzgermeisters, taucht neben der Chaussee Pinon -Soissons- Paris wieder auf. Bevor ich im Winter 1916/17 in die Siegfriedstellung zurückzugehen hatte, war ich mit meinem Stabe hier einquartiert gewesen. Im Musikzimmer stand damals auf dem Kamin hinter einem noch klangreinen Steinway-Flügel die Marmorbüste der jungen, schönen Hausherrin. Jetzt hätten die französ. Granaten von allem nur noch die beiden steinernen Stufen am Eingang das Hauses stehen lassen.
Nur gelblicher Kalkstaub zeichnete die ungefähre Lage, wo es einst gestanden hatte.
 
Dann taucht wieder Coucy le chateau auf, die hochragende, über 600 Jahre alte, trutzige Burg, das französische Heidelberger Schloss genannt, an dem ich im Winter 1916/17 allwöchentlich im Auto vorbeigekommen war, um meinem Kommandierenden General über Fortgang, Auswahl der Stellungen oder Sonderwünsche zu den Arbeiten in der Siegfriedstellung Vortrag zu halten. Doch der einst weit ins Land hinaus schauende, mächtige verteidigungsfähige Turm war inzwischen von uns gesprengt worden, um feindliche Beobachtungen nicht bequemen Einblick in alle unsere Stellungen zu geben.
Und Laffaux! Seit der französischen Frühjahrsoffensive im April 1917 gegen unsere Siegfriedlinie und nach unserem späteren Gegenstoß nur noch ein geographischer Begriff! In seiner Nähe ein franz. Heldenfriedhof mit tausenden Gräbern, alle mit der Trikolore und kleinen unvergänglichen Kränzen geschmückt.
Dann geht der Ritt an Soissons vorbei und an seiner ehrwürdigen Kathedrale, die wir immer mit unseren Geschossen sorgsam so lange geschont hatten, bis wir erkannten, dass unser artilleristisches Gegenspieler, der feindliche Artilleriebeobachter, sich im Turm eingenistet hatte.
Und zuletzt passiere ich das ehemalige franz. Etappengebiet, das seit Juni 1918 deutsch gewordene Hinterland. Hier war der Krieg beim Vorstürmen unserer Nachbardivisionen so schnell über das Land geschritten, dass bis in die Gegend von Villers-Cotterets kaum etwas von Zerstörungen zu sehen ist. Wohlbestellte Äcker und reifende Getreidefelder, aber immer nur mürrische Gesichter der franz. Bauern boten sich meinen Blicken.
 
Juli 1918
 
Am frühen Morgen des 13. Juli bin ich am Ziel, bereits vom dortigen Artillerieführer erwartet. Ich sehe in ihm einen guten Bekannten und ehemaligen Regimentskameraden aus Schlesien wieder. In der mir zugewiesenen Papillon-Ferme komme ich gut unter. Sie war bisher vollständig erhalten. Zwei Stunden nach meiner Einkehr schlagen die ersten Granaten in den Hof hinein, die den Pferdeburschen meines Stabsarztes, der mit mir geritten, beim Putzen der Pferde tödlich treffen.
 
Im Verlauf noch dieses Tages haben sich die Batterien meines Regiments in der Nähe meiner Ferme versammelt. Sie bleiben in Alarmbereitschaft.
 
In der Nacht vom 17./18. Juli geht aus dem Wald von Villers-Cotterets ein Trommelfeuer von bis jetzt noch nicht gehörter Stärke auf. 2100 Geschütze deckten, wie ein späterer französ. Bericht angab, unsere Stellung vor dem breiten Walde ein. Darauf erfolgte der feindliche Angriff.
 
Unsere vordersten schwachen Kräfte vermögen nicht mehr in den seit Juni noch kaum ausgebauten Gräben ernsten Widerstand zu leisten. Überläufer hatten zwar 2 Stunden vorher den uns bevorstehenden Grossangriff gemeldet, aber zu spät für uns, um jetzt noch Verstärkung heranführen zu können.
 
Mein Regiment wartet noch immer auf seinen Einsatz, bis uns endlich am späten Nachmittag des 18. Juli der Befehl herzu erreicht. Ich eile zur Erkundung voraus und treffe zwei Generale an, die den herankommenden artilleristischen Einsatz zwar freudig begrüßen, mir aber nur sagen können, dass ihre Infanterie-Regimenter nur noch den vierten Teil ihres überhaupt schon verringert gewesenen Bestandes aufweisen. Auch sei der Verlauf der Beidseitigen Frontlinie z.Zt. nicht feststellbar, so schwanke der Kampf, einige hundert Meter von uns entfernt, noch hin und her.
Eine neue Feuerwalze könne sofort beginnen.
Das alles und in die Ungewissheit hinein, disponieren zu müssen, war ja nicht gerade erfrischend, aber auch nicht allzu sehr nach den bereits vorausgeeilten Gerüchten enttäuschend.
In der wolkenbedeckten, sehr dunklen Nacht werden die Feuerstellungen gefunden und besetzt, wenige Stunden darauf von der franz. Infanterie angegriffen, einige Geschütze erbeutet aber sämtlichst unter hohen Verlusten für den Feind wieder zurückgewonnen.
 
Es war eine tolle nacht für alle Teile meines Regiments, für jeden einzelnen von uns. Immerhin vermochte man im Stehen beim Morgengrauen etwas zu schlafen.
Ein erheiternder Moment war ein sehr großer, hünenhafter Senegalneger, den die Infanterie gefasst hatte. Er lachte dauernd in seiner viel zu kleinen Uniform, nahm seine große Feldflasche und goss sich mit weit zurückgebogenem Kopf aus ausgestreckter Armhaltung, ohne auch nur ein einziges Mal eine Schluckbewegung zu machen etwa 1 ½ Liter Kaffee in den Magen. Ein gutmütig grinsendes, zufriedenes Gesicht zeigte, dass für ihn Durst und Krieg beendet waren.
 
Juli 1918
 
Seit diesem für die gesamte Westfront verhängnisvollen Morgen gingen wir kämpfend auf der ganzen Linie zurück, ohne dem Gegner die Möglichkeit eines Durchbruches, einer Überholung oder Einkesselung zu geben. Noch hält auch die gesamte übrige Front und stemmt sich heldenhaft, immer noch an den Endsieg glaubend, gegen den immer größer werdenden feindlichen Druck.
 
Als wir Soissons erreicht haben, vermag mein Regiment aus seinen neun Batterien nur noch 2 bis 3 vollkommen kampfkräftige Batterien zusammenstellen.
 
August 1918
 
In weiterer Durchführung unseres planmäßigen Rückzuges wird am 2. August 1918 auch Soissons aufgegeben. Die Feuerstellungen die wir hier eingenommen hatten, waren zufällig dieselben, in denen wir hier während des ruhigen Winters 1916/17 gestanden hatten.
 
September 1918
 
Anfang September wird unsere 211. Division aufgelöst (wie noch weitere 10 Divisionen an der Westfront) um zur Auffüllung abgekämpfter Regimenter verwendet zu werden. Mein Regiment wird Heeresartillerie und marschiert zunächst nach einem Schiessplatz in der Etappe, um sich dort an Mannschaften, Pferden und neueren Geschützen zu ergänzen, und hält zur weiteren Ausbildung eine dreiwöchige Schiessübung ab.
Es sit ein sicheres Zeichen dafür, dass zu dieser Zeit die Oberste Heeresleitung bestimmt nicht mit einem nahen Kriegsende gerechnet hat.
 
Oktober 1918
 
Vom 19. September bis 7. Oktober wird mein Regiment weitab von der bisherigen Kampffront im oberen Elsass bereitgestellt, weil hier mit einem feindlichen Durchbruch zu rechnen ist. Da sich aber hier nichts ereignet, genießen wir in schönen Waldlagern, unweit von Mühlhausen, die uns nur selten beschieden gewesene Ruhe. Hier erfahren wir die schlechte Nachricht vom Zusammenbruch und Abfall Bulgariens. Unsere Verpflegungsempfänger bringen aus der Etappe Flugblätter bösester Art mit, die Urlaubern aus der Heimat mitgegeben oder von feindlichen oder eigenen Fliegern abgeworfen worden waren. Zum Verrat zum Überlaufen, zur Gehorsamsverweigerung, zum Streik wurde auf Blättern und Karten aufgefordert, die mit den geplanten neuen Farben der kommenden Republik "verziert" waren. Das war der "Dolchstoß" der Heimat, der uns an der Front treffen sollte, und dann in späterer Zeit abgeleugnet worden ist.
 
November 1918
 
Vom 9. Oktober bis 11. November stehen meine Batterien nach eiligem Bahntransport an der Nordfront der Argonnen.
Erstmals haben wir hier zahlenmäßig überlegene amerikanische Truppen vor uns, die im Großangriff am 1. November gegen uns eingesetzt waren. Noch einmal haben meine Batterien schwerste Kämpfe und schwerste Verluste zu ertragen.
In der Ferne sehe ich meinen Vauquois-Berg, auf dem ich vier Jahre vorher als Abteilungskommandeur 40 Schritt vom Gegner entfernt, in meinem Gefechts- und Beobachtungsstand manchen Angriff erlebt hatte. Der Feind hat den Berg niemals erobern können. Noch immer ist sein Gipfel vom Rauch der einschlagenden Granaten verhüllt, noch immer liegen über ihm die unablässig sich erneuernden weißen Wolken platzender Schrapnells.
Vauquois ist das Symbol der Unbezwinglichkeit für alle Argonnenkämpfer geblieben.
 
Da wir in guter Ordnung kämpfend weiter zurückgehen, glauben wir nach Abschluss dieser Bewegungen in eine neue, vorbereitete Stellung, die von Antwerpen bis zur Maas verläuft, geführt zu werden.
Anders war der kommende, fünfte Kriegswinter für uns Frontkämpfer nicht vorstellbar! Die Kampfmoral war innerhalb der gesamten Artillerie und der meisten Infanterie-Regimenter noch ungebrochen.
Doch noch einmal musste Deutschland erkennen, dass es wieder nur durch eigene Uneinigkeit gefällt werden konnte.
 
11. November 1918
 
Der 11. November verkündete uns mittags 12 Uhr, dass ein Waffenstillstand allen Kampf beende.
Aber nur der offene Kampf war beendet. Viel schlimmeres stieg gegen uns herauf. Das erkannten wir, die wir vom Hass und Vernichtungswillen der Gegner und der überstaatlichen Mächte wussten.
Von den Höhen der Maas, unweit des für jeden Deutschen bisher mit Stolz genannten Ortes Sedan, beginnt für uns der Abmarsch in die Heimat.
Am 16. November passiere ich Rossignol in Belgien, die Stätte, an der 1914 meine einst in Neustadt von mir geführte Batterie in so vernichtendes franz. Artilleriefeuer geraten war, dass nur fünf Mannschaften, einschl. der Offiziere nicht tot oder verwundet waren. Wie oft haben wir hiervon meine treuen Unteroffiziere berichtet!
 
Am 19. November überschreiten wir bei Echternach die deutsche Grenze, überall herzlich in der Heimat als disziplinierte Truppe empfangen und bewirtet, im Gegensatz zur verwildert und teilweise meuternd zurückflutenden Etappe.
 
Unser Marsch führt uns weiter bei klingendem Frost durch die Eifel, durchs Moseltal, durch den Hunsrück, um bei St. Goar auf der dort errichteten Kriegsbrücke den Rhein zu überschreiten.
 
Als ich am 29. November dorthin zur Erkundung meinem Regiment vorausreite, stehen plötzlich nahe der Brücke Mieze und Dorothee vor mir. Es war in diesem Augenblick für mich Ahnungslosen eine unfassbar schöne Überraschung. Nun erst war ich wirklich wieder in der Heimat. Alle schweren Gedanken angesichts des Rheins hatte unser wiedersehen hinweggenommen. Nun war ich wieder zu Haus! Auch heute noch einmal innigen Dank für alle Liebe, die unter der Soldateska während dreier Tage und Nächte ermöglicht hatte.
 
Dezember 1918
 
Unser Marsch geht weiter durch Rheinhessen, durch Giessen, Limburg, die Wetterau bis zum Vogelsgebirge, in dessen stillen tiefverschneiten Dörfern wir überall ein uns herzlich gegebenes Weihnachten verbringen.
 
Januar 1919
 
Zu beginn des neuen Jahres wird das Regiment nach Diepholz bei Bremen abtransportiert.
 
Februar 1919
 
Dort ist unsere Demobilmachung am 5. Februar 1919 durchgeführt.
Als Freunde und gute Kameraden gingen alle Teile meines Regimentes auseinander. In seinen Offiziers- und Mannschaftsvereinigungen hält es treu bis heute zusammen.
 
Mai 1919
 
Bis Mitte Mai bin ich nach Wertheim/M. beurlaubt, wo sich Heinz aufhält. Unser Hans ist hier mein treuer Begleiter. Nach seiner schweren, glücklich überstandenen Gehirngrippe war er bis zu seiner vollständigen Wiederherstellung vom Schulunterricht befreit gewesen.
Für mich ist meine militärische Tätigkeit aber erst am 31. Juli beendet, da ich den Befehl erhalten hatte, in Burg die Magdeburg das ehemalige Felda. Rgt. 40 abzuwickeln. Ich gehöre bis Januar 1920 noch dem Heere an.
 
August 1920
 
Am 1. August bin ich aber endlich mit den meinigen wieder in Wiesbaden vereint.
Gesund kehre ich zu ihnen zurück. Ein gütiges Schicksal hatte mich draußen in seinen Schutz genommen.
 
Fünf Jahre war ich von den Meinigen getrennt gewesen. Aber nicht minder schwer war für sie diese Zeit in anderer Beziehung zu tragen gewesen.
Tapfer und unverzagt und zuversichtlich hat Mieze alles hingenommen als bester Kamerad unserer Kinder.
Im Grenzland lastete der Krieg noch viel härter auf jedem als im anderen Deutschland. Bereits im Frontgebiet befindlich, in der Festung Metz bei Ausspruch der Mobilmachung, dann innerhalb weniger Stunden ausgewiesen, nach unserem ersten Vorstürmen nach Frankreich hinein aber wieder nach Metz zurück gelassen, dann wegen dauernder Fliegerangriffe und Fernbeschuss der Festung endgültig in die Notwohnungen nach Kreuznach übergesiedelt, dann den Ansprüchen der dort einrückenden, das Rheinland besetzenden Franzosen preisgeben, das waren durch den auf ihr lastenden seelischen Druck fast unerträgliche Belastungen gewesen. Dazu die Schwierigkeiten, die ein mangelhafter Schulunterricht mit sich brachte und die Ungewissheit bis zuletzt, wo die Metzer Flüchtlinge Aufnahme und Wohnung finden würden.
Das alles unverzagt und mit gesundem Optimismus zu meistern, war stilles, den Kindern vorgelebtes Heldentum gewesen!
 
Papa hatte zu Beginn seines fünften Jahrzehnts geistig und gesundheitlich auf der Höhe seines Wirkens und Schaffens gestanden.
Er hatte es wohl auch selbst empfunden und es seiner Familie gegenüber dadurch ausgedrückt, dass er zu Weihnachten vor seinem bald darauf folgendem fünfzigsten Geburtstag Mama sein von Professor Kreyer gemaltes Ölbild schenkte.
Er ist darauf ganz gut getroffen, wirkt aber auf uns alle dennoch fremd, weil auf ihm seine Frohnatur, seine so gütigen, strahlenden Augen, der Zauber seiner Persönlichkeit kaum wiedergegeben ist. Es liegt vielmehr ein Hauch von Schwermut über seinen Zügen, den wir niemals beobachtet haben. Oder hatte der Maler bereits mehr gesehen als wir? Ahnte oder wusste Papa bereits als Arzt die ersten Anzeichen heraufsteigender, lebensbedrohender Erkrankung? Hatte Papa uns liebevoll besser zu täuschen verstanden als das schärfer sehende Auge des Künstlers?
War Papa schon vor der Drucklegung seines Werkes: "Heilung der Tuberkulose durch Kreosot" aufs höchste in seiner Arbeitskraft beansprucht worden, so setzte nach dem Erscheinen dieses seines Lebenswerkes eine ungeheure Mehrbelastung seiner Kräfte ein. Die Heilung dieser Geißel der Menschheit konnte jetzt aufgrund von fünftausend an Kranken und wieder gesundeten Menschen angestellten Beobachtungen in Aussicht gestellt werden. Begeisterte Berichte von Heilungen selbst erkrankt gewesener Ärzte lagen vor. Kreosot war von Papa nach den vielen vorausgegangenen chemischen Experimenten, den Tier- und klinischen Versuchen und Beobachtungen als das specifische Heilmittel der leidenden Menschheit angegeben worden!
Die Kunde hiervon wirkte alarmierend auf die gesamte deutsche Ärzteschaft wie auch auf die Laienwelt. Bereits im ersten Jahr 1891/92 waren 3 Neuauflagen der Veröffentlichungen notwendig geworden.
Noch vermochte Papa diese Mehrbelastung mühelos zu bewältigen. In seinem Forscherdrang vermehrten sich eher seine Kräfte als zu erlahmen. Noch war er neben seinen beruflichen Pflichten das Übermaß an Arbeit durch die entfachte Bewegung gewachsen. Er war immer ebenso redegewandt wie schnell mit der Feder gewesen, wie das die vier vorher herausgegebenen Bücher und seine als Sonderabdrucke erschienenen 44 Berichte in medizinischen Fachzeitschriften ja auch beweisen. Der Schwung seiner immer vorhanden gewesenen geistigen Regsamkeit ist ja auch daraus erkennbar, dass er als Jüngling von 18 Jahren die Abiturienten-Abschiedsrede gehalten hatte, dass er als Student sich mit Erfolg an der Lösung medizinischen Preisaufgaben beteiligte, dass er als "Alter Herr" alljährlich bei den Stiftungsfesten seiner Raczek-Burschenschaft den Kommers mit seiner Rede eröffnete und ihn mit weiteren Ansprachen zu würzen wusste, und dass er in öffentlichen Reden politisch gegen Demokratie und Judentum aufgetreten ist.
 
Jetzt jedoch war der Bogen überspannt. Sorgenvoll erkannte es Mama, liebevoll ihm kleine Arbeiten abnehmend und ihn an ein Haushalten mit seinen Kräften mahnend.
Erwünschte Erholung brachte Papa eine Konsultation in dieser Zeit nach Zürich, die er mit einem Abstecher nach seinem lieben Vierwaldstädter See verband und bald darauf wiederum eine Konsultation nach russisch Polen zu einem fürstlichen Magnaten.
Die Heilungsmöglichkeiten der "Professor Sommerbrodtschen Kreosotkapseln" waren in der ganzen Welt bekannt geworden. So erhielt Papa einmal das Duplikat eines Rezeptes aus Japan von einem der deutschen Sprache mächtigen japanischen Arzt mit der Verordnung seiner Kapseln zur Kenntnisnahme mit kollegialem Gruß zugesandt. Um die Herstellung des Medikaments als Alleinberechtigte für Nordamerika bewarb sich und erhielt die Genehmigung einer chem. Fabrik in New York, und für Europa ermächtigte herzu Papa eine Berliner Apotheke. Um es gleich zu sagen, entfiel kein materieller Gewinn auf Papa oder seine Erben, da beide Firmen in jüdischen Händen lagen und Papa als Nichtkaufmann sich hat in den Verträgen betrügen lassen. Beide Firmen steckten unter einer Decke und spielten sich scheinbar gegeneinander aus. Jeder der Gauner behauptete, für beide Kontinente das alleinige Herstellungsrecht erhalten zu haben, und dadurch vom Gegenpartner geschädigt, Papa für die Verluste verantwortlich machen zu müssen
. Um Entschädigungsbeträgen größten Unfanges zu entgehen, überließ Papa seinen Gewinnanteil den Manichäern.
Im Winter 1892/93 stellten sich bei Papa erste tatsächliche Erkrankungen ein. Er bezeichnete sie aber nur als kleine Störungen lediglich nervöser Art, die durch zu reichlichen Nikotingenuss hervorgerufen seien. Papa rauchte zwar stets gerne, damals aber vermehrt seine starken Import-Zigarren, sie hatten ihm bereits schonfrüher einmal eine Nikotinvergiftung verschuldet gehabt. Schon die Silberhochzeit am 14. März 1892 hatte Papa ohne die geplant gewesenen kleinen Festlichkeiten vorübergehen lassen und war mit Mama zu mir nach Berlin gekommen, wo ich gerade mein Kommando zur Artillerieschule hatte.
Aus ersten gesundheitlichen "Störungen" wurden allmählich kleine Anfälle, die sogar Bettruhe erforderlich machten. Die Sprechstunden und Collegs wurden eingeschränkt, alle Geselligkeiten aufgegeben. Im Mai 1893 musste sich Papa zu einer Kur in Begleitung von Mama in Bad Nauheim entschließen. Der Erfolg war zunächst so gut, dass er Anfang Juli mit Mama und Walter nach der Schweiz reiste. Da ihm der Aufenthalt in unserem lieben, 1600 Meter hoch gelegenen Rigi-First entraten war, so ging er nach Interlaken, wohin er nach etwa 10 Tagen auch mich und Heinz nachkommen ließ.
Der zuversichtlichen Stimmung war aber inzwischen die Sorge gefolgt. Papa fühlte sich in seinem Zustand wieder verschlechtert. Mama war eine viel zu feine Beobachterin, als dass sie sich durch den Ernst des Zustandes hätte täuschen lassen.
Ihre täglichen, unauffällig niedergeschriebenen Beobachtungen auf Wunsch des Papa in Breslau behandelnden Arztes haben es bewiesen.
Wir wohnten in Interlaken im Hotel des Alpes, am bekannten Höhenweg. Bei unserer gemeinschaftlichen Spaziergängen auf dieser mit hundertjährigen Nussbäumen bewachsenen schönen Promenade oder auf dem Wege zwischen den nahen Brienzer- und Thuner Seen, angesichts der mit ewigen Schnee bedeckten Berge des Berner Oberlandes ging Papa gern tieferen Gedanken nach. Es waren Lebenserfahrungen von ihm, die er uns zuweilen aussprach, oder Ermahnungen oder eigenste Anschauungen, mit denen er uns alle jedes Mal zu fesseln verstand.
Niemals ließ er es zu, dass bei uns Sorgen um ihn aufkamen und ausgesprochen wurden. Und dennoch waren sie unsere stummen Begleiter und suchten wir nach unauffälligen Gründen, früher als geplant, die Heimreise nach Breslau anzutreten, zumal die Befragung eines Spezialisten in Bern Papa mehr beunruhigt als genützt hatte.
Von dem, was Papa zuweilen Besinnliches zu uns gesprochen hatte, ist uns einiges im Gedächtnis haften geblieben. Mama zeichnete sich später alles auf und wir Söhne halfen ihr es, wieder uns gegenwärtig zu machen.
So sagte er einmal ganz unvermittelt zu Mama, dass man seine Kinder so hinnehmen müsse, wie sie einem geschenkt worden seien. An ihrer erbbedingten Charakteranlage könne man nur wenig ändern und nur etwaige wilde Triebe könne man zurückschneiden und stutzen, wie bei seinen Rosen im Garten.
Geiz nannte et einen Charakterfehler, verständige Sparsamkeit aber Quelle neuer Freuden.
Er warnte uns vor Oberflächlichkeit und Egoismus und zwar nicht nur in materiellen, sondern auch in ideeller Beziehung. Ungerechtigkeiten seien das Zeichen eines kleinen Geistes und Unduldsamkeit der Beweis für geistiges Spießertum.
 
Papa hielt die Seele göttlichen Ursprunges. Deshalb würde sie auch nicht mit den Menschen sterben, sondern in die Un-sterblichkeit zurückkehren.
Schiller war sein Ideal in der Jugend später wurde es Goethe und jetzt sei er mehr zu Schiller zurückgekehrt. Manchmal sagte er, könne ein einziges Wort der Gewinn eines ganzen Lebens sein.
Niemals solle man auf oberflächliche Eindrücke zu großen Wert, legen. An der Oberfläche liege zwar die Schönheit, aber in der Tiefe die oft weniger schöne Wahrheit und Wirklichkeit. Pessimismus sei die schlimmste Bremse des Erfolges. Vernünf-tiger Optimismus ist dagegen als Gnadengeschenk und ein
Schrittmacher für Erfolg, Aufstieg und Gewinn.
Musik ist die große Frösterin im Leid. Ist aber Freude im Herzen, da verleiht sie uns Schwingen, bis zur Sonne zu fliegen und gibt Mut, nach den Sternen zu greifen.
Bei Temperament ist es leicht, gut zu reden. Sehr viel schwerer aber ist es gut zuzuhören.
Von Papa ist auch der scherzhafte Ausspruch geprägt worden, dass viele Patienten nicht durch, sondern trotz der ärztlichen Behandlung wieder gesund geworden sind.
 
Am 12. August verließen wir Interlaken, kamen noch bis Frankfurt/M., stiegen im Frankfurter Hof ab, schlenderten etwas in der Stadt herum und aßen im Palmengarten zu Abend. Da Papa guter Stimmung war, waren wir es auch.
Am 13. August fuhren wir bis Leipzig. Papa hatte viel gelesen. Ziemlich ermattet stieg er mit uns im dicht am Hauptbahnhof gelegenen Hotel Sedan ab. Auf ausdrücklichen Wunsch von Papa gingen Heinz und ich in Auerbachs Keller zu Abend essen, um auf den Spuren Goethes dort gewandelt zu haben, wie Papa sagte. Als wir zeitig nach Hause kamen, fanden wir Mama und unseren lieben, doch erst 13 Jahre alten Walter verzweifelter Stimmung vor. Papa war in unserer Abwesenheit plötzlich von Schwäche und Sehstörung befallen worden. Die bereite Medizin hatte erstmalig nicht Erleichterung gebracht. Mama schlug vor, den folgenden Tag noch in Leipzig zu verbleiben, doch war es diesmal erstmalig Papa, der nach Hause zu kommen drängte.
So trafen wir am 14. August gegen 4 Uhr nachmittags wieder in Breslau ein.
Papa machte sich bald darauf eine Untersuchung auf Eiweiß und begab sich zu seinem Mitberater, Professor R.
Um 8 Uhr holten Heinz und ich Ihn, wie verabredet vom Club im Zwinger ab. Eine bereitstehende Droschke wollte er nicht benutzen, sondern bestand darauf, lieber zu Fuß in der hierzu noch benötigten Viertelstunde unterwegs zu sein, um die frischer kühle Luft genießen zu können.
 
Beim Abendessen, wohl etwas gegen ½ 9 Uhr wurde plötzlich Papa benommen verlangte die Öffnung des Fensters und ließ sich auf das Sofa führen. Unsere beiden Mädchen und der treue Diener Carl eilten nach Ärzten. Da an Sonnabend Abend war, war zunächst keiner zu Hause anzutreffen gewesen. Nach einer bangen Stunde erschien endlich der uns bekannte Dr. D., ohne aber besser helfen zu können, als uns eine öftere Verabreichung der bereits gegebenen Tropfen anzu-empfehlen. Dr. D. verließ uns bald wieder, da Papa es wünschte.
Papa hatte nur mit Anstrengung sich mit ihm unterhalten können. Als Papa sich ihm gegenüber über "so taube Lippen" beklagte und Dr. D. ihn zu trösten versuchte, dass hieran die Medizin die Schuld habe, da lächelte Papa ein wenig, diese Deutung mit einer Kopfbewegung verneinend. Langsam sprach er mit der Hand auf die Stirn weisend, nur das eine Wort "Central" aus.
Es war zu seinem letzten Wort geworden.
Papa schien ein wenig zu schlummern.
Plötzlich durchschüttelte ihn ein Krampf. Ein letzter fragender Blick traf mich aus seinen verklärt erscheinenden Augen, der ich ihm zufällig die kühlende Kompresse auf seiner Stirn erneuerte.
 
Unfassbar, es glauben zu sollen, dass uns Papa in diesem Augenblick für immer genommen war. Unfassbar für mich, es Mama zurufen, zu ihr eilen zu sollen, dass unser geliebter Vater tot sei. Mama war für diesen einen Augenblick ins Nebenzimmer gegangen, um zur Erfrischung für 2apa etwas Kölnisches Wasser zu holen und um ihre Tränen zu verbergen.
 
Die Teilnahm um das Hinscheiden von Papa war allenthalben ungeheuer groß.
Am Beisetzungstage erschreckte uns die unübersehbare Zahl der Trauergäste. Unsere Wohnung, in der Papa aufgebahrt lag, und selbst das Treppenhaus, konnte die, sich drängenden Men-schen nicht fassen. Unsere eigene Trauer erschien uns pro-faniert. Auf der Strasse war der Verkehr unterbunden worden, um den aufmarschierten studentischen Verbindungen, Abord-nungen und Neugierigen Platz zu geben. Mein Regiment mit einigen Offizieren sein Trompeterkorps entsandt.
 
Wir fürchteten um die Gesundheit von Mama. Sie ohne Papa, ohne seinen Rat und Hilfe, war für uns zu-nächst gar nicht vorstellbar.
 
Doch für Walter, für seine Pflege und Erziehung hatte sie stark zu bleiben, um ihm den Vater zu ersetzen. An dieser Aufgabe wollte sie sich aufrichten und ihr eigenes vergessen. Walter hatte das Erlebnis von Papas plötzlichem Tod zu tiefst erschüttert. Seiner Depression konnte Mama allein mit ihrer Liebe entgegen wirken.
 
Das zwischen ihr und Walter bestehende innige Verhältnis wurde noch tiefer. Es verklärte sich im Lauf der Jahre zu edler Seelenfreundschaft.
 
Und dennoch konnte keinem von uns älteren Brüder der Gedanke aufkommen, dass Walter uns vorgezogen würde, jedem ihrer Söhne lebte Mama in immer gleichbleibender Liebe und Güte. Alle unsere Schwächen verstand sie. Wir machten sie zu unserer Vertrauten, um ihren klugen, lebensnahen, welterfahrenen, zuweilen warnenden Rat zu hören, der immer gerecht und un-parteiisch war. Ihre Mutterliebe war unbegrenzt, unerschöpflich und gab und schenkte nur immer, niemals das Maß ab-wägend, sondern nur selbst davon beglückt, Liebe geben und Freude machen zu können.
 
Walter war ohne Schwierigkeiten durch das Gymnasium gegangen und studierte darauf in Lausanne, Heidelberg und Breslau Rechtswissenschaften. Ihm hatte anfänglich vorgeschwebt, die Dozentenlaufbahn zu ergreifen, doch ließ er sich nach seinem mit Prädikat bestandenen Assessor-Examen von Zweckmäßigkeitserwägungen leiten und entschied sich für das Bankfach. Während der Zeit, in der er Personalassessor beim Oberlandesgerichtspräsidenten in Breslau war, hörte er noch Kunstgeschichte und lernte englisch und zwecks Ausbau unserer Familiengeschichte auch die czechische Sprache.
 
Gesundheitlich hatte er damals wenig zu klagen. Die mit Mama unternommenen Sommerreisen an die Nordsee, die Dolomiten, das Engadin dienten nur der allgemeinen Kräftigung und Entspannung beider. Die mit seinem nahen Freunde Hans v. Staff ausgeführten Hochtouren mit Eispickel und Beil bewiesen Kraft und Gesundheit.
 
Nach informatorischer Beschäftigung bei einem Breslauer Bankhaus bewarb er sich um eine leitende Stellung bei der Frankfurter Hypovereinsbank wurde auch dorthin berufen und am 19. August 1913 als Mitglied des Direktoriums übernommen.
 
Mama, die ihr Breslauer Haus bereits im Jahre 1901 verkauft hatte, und darauf mit Walter nach der Hohenzollerstrasse 48, II. übergesiedelt war, zog ihm nach seiner Ernennung zum Direktor im März 1914 nach Frankfurt/M. nach. Dort kaufte sie sich 1916 das Grundstück Wiesenau 57, da sie in diesem Hause gemietet gewesene Wohnung ihren und Walters Wünschen entsprach.
 
Walter fühlte sich in den Frankfurter Verhältnissen von Anfang an ungemein wohl. Seine Fähigkeiten und Anlagen konnten sich in seinen neuen Wirkungsbereich bestens entfalten. Außer Reformen im eigenen Institut schuf er in den schweren Nachkriegsjahren die Gemeinschaft der Südwestdeutschen Hypothekenbanken und hatte an der Gründung der Festwertbank in Stuttgart maßgeblichen Anteil.
 
Seine Qualitäten wurden bereitwilligst auch in weiteren Fachkreisen anerkannt. Man holte ihn in den Vorstand des Centralverbandes des Deutschen Bank- und Bankiergewerbes, Sitz Berlin.
Auf Bitten der Frankfurter Zeitung beleuchtete er in deren Handelsteil öfters die nachkriegszeitlichen schwierigen Verhältnisse in Geld- und Hypothekenfragen.
Die Generalversammlungen seines Institutes leitete er, dabei ihm "immer neue Wege weisend". Das gute Überstehen der Krisenzeit seitens der Hypothekenbank ist ausschließlich sein allgemein anerkanntes Werk gewesen.
 
Die Frankfurter Museumsgesellschaft wählte ihn wegen seiner "hohen Geistes- und Herzensbildung" in ihren Vorstand. Hier sei seiner umfangreichen Bibliothek Erwähnung getan. Als Bücherfreund besaß er Frühausgaben unserer Klassiker und andere Seltenheitswerte. Alle Gebiete des Wissens und der Kunst waren in seinen Büchern vertreten, wenngleich kunstgeschichtliche Werke bevorzugt waren. Sein Interesse und Verständnis für die Baukunst des Barocks und der Gotik war bekannt. Nach einer einmal in Bamberg, der Stadt des Barocks, stattgefundenen Versammlung von Direktoren ließen sich diese von ihm dort den schönsten profanen und kirchlichen Bauten führen. Ihnen dabei auch die damalige Zeit nahebringend, machte er ihnen ***** seine Führung zu einem "unvergesslichen Erlebnis".
 
Stets war er in seinem Auftreten schlicht, einfach und vornehm, niemals mehr scheinen wollend, als er war. Von wahrem Herzensadel hielt er sich zurück und ließ sich lieber finden. Seine Hilfsbereitschaft allen Menschen gegenüber war ihm Herzenssache.
 
Da er unverheiratet geblieben ist, lässt er Mama an allen seinen Interessen teilnehmen, die ihm willig auf vielen Gebieten folgt und sich weiterbilden lässt.
 
Schon als Schüler hatte er mit Geschick und Geschmack zu photographieren begonnen und später durch Technik und Auswahl Spitzenleistungen landschaftlicher Stimmungsbilder herausgebracht.
 
Aber trotz aller Bevorzugungen, die ihm das Leben brachte, fühlte er sich von etwa seinem dreissigsten Jahr an nicht frei und unbehindert.
Eine gesundheitliche Indisposition, wie er seinen Zustand bezeichnete, veranlasst ihn, über die mutmasslische Ursache derselben zu grübeln. Erst scheint es ihm, als sei sein Schaffensdrang, die vielen übernommenen Pflichten und die hierfür aufgewendete Arbeitsleistung zu viel für die ihm mitgegebene Widerstandskraft gewesen.
 
Dann glaubt er als Grund für seine "Spannungen", wie er sich ausdrückte, die Synthese zwischen deutschem und romanischem Blut gefunden zu haben, noch immer unwissend, dass eine Aderverkalkung begonnen hatte, die in so jungen Lebensaltern eine sehr große Seltenheit ist.
Doch er wird nicht verbittert, glaubt an den ihm vom Arzte zugesicherten Ausgleich und an den späteren Vollbesitz wieder von Gesundheit und Wohlbefinden. Er bleibt beherrscht und ist mit den Fröhlichen fröhlich. Er ist doch noch jung! Er will teilhaben am Leben.
Er ist ein gern gesehener Gast, der glänzend und geistreich zu plaudern und zu unterhalten weiß.
 
Immerhin kauft er sich, wo er sie nur findet, die Serienbilder des Holbeinschen Totentanzes und ähnliche Bilder. Der schnell verrinnende Sand der Totenuhr, die der Sensenmann hochhält, ist ihm Symbol der Kürze der ihm nur noch verbleibenden Lebenszeit.
Die beiden gotischen Piétas, die er sich erwirbt, zeigen ihm den Schmerz, den auch er seiner Mutter durch seinen frühzeitigen Tod bereiten wird.
 
Wie schwer hat seine gesundheitliche Unzulänglichkeit das ihm Ungewisse seines Zustandes bereits seine Seele berührt!
 
Doch noch straffen sich seine körperlichen Kräfte und gehorchen seinem Willen. Noch kann er zu seinen geliebten Bergen hinaufsteigen, hoffend dort oben uneingeschränktes wohlbefinden wieder zu gewinnen. Noch unternimmt er im Sommer 1922 mit seinem Freund Hans v. Staff mit Eispickel und Seil einen Aufstieg aus dem Rhonetal zu seinen geliebten Schneebergen.
 
Nach schwerem Abstieg aber erkrankt er. Der Arzt im kleinen Alpendorf warnt ihn, jemals wieder sich ähnliches zuzumuten.
"Glück und Unglück, Wandrer, trag in Ruh, Beides geht vorüber, - und auch Du.
Ließt er auf dem kleinen Bergfriedhof, und findet mit diesem "memento mori" sich selbst getroffen.
Im Januar 1924 hat er gegen seine fortschreitende Krankheit im Sanatorium Hornegg, bei Geh. Rat Römheld sich noch einmal aufgelehnt. Nach vorübergehender, scheinbarer Besserung geht aber sein Leben langsam seinem Ausklang entgegen. Er war sich seines tragischen Geschickes voll bewusst. Heldenhaft ist er ihm entgegen gegangen.
Als er bereits vom Tode gezeichnet ist, am Tage des 75. Geburtstages der Mutter, am 7. Mai 1914, da fühlt er sich, aus Liebe und Dankbarkeit zu ihr, für diesen einen Tag noch einmal gesund. Eine wundervolle Euphorie überkommt ihn.
 
"Jetzt weiß ich, dass ich noch einmal gesund werden und leben kann, sagt er zu ihr, als sie früh an sein Bett getreten war, ihr es immer wieder bestätigend, selig in dem Gedanken, dass der Kelch an ihm noch einmal vorübergehen wird. Er bereitete mit diesen Hoffnungen Mama das schönste Geburtstagsgeschenk.
 
Am 26. Mai 1924 ist Walter wenige Tage vor Beginn seines 44. Lebensjahres seinen Leiden erlegen. Zu seinem alten, zu spät erkannten Leiden war noch eine Erkrankung der Nieren hinzugekommen, wie einst bei unserem Vater.
 
Walters hoher Verdienst wird es immer bleiben, dass er es gewesen ist, der erstmals die Ereignisse und Erlebnisse Krystians kurz vor seiner und seiner Familie Einwanderung 1732 in die Mark Brandenburg, aus der Sphäre der Tradition in die Gewissheit dokumentarischer Belege geführt hat, und ebenso auch das Wirken unseres Ahnherrn um 1400 als Bürgermeister von Prag, Ratsherr von Litochleby und als Führer der Bewegung um den Reformator Hus. In seinem an mich 1915 in den Gefechtsstand von Vauquois gerichteten Brief, der in anderer Stelle bereits wiedergegeben ist, teilt er mir voller Freude und Genugtuung dieses Resultat seiner Forschungen erstmals mit.
 
Seine Familienforschungen hat er mit folgenden Worten abgeschlossen:
"Wir sind nur Ufer des Blutes unserer Voreltern, das durch uns zu den Kommenden rollt. Das ist unser Zweck, und es ist das, was uns verpflichtet. Aber was ich selbst für mich gewesen bin, das gräbt man mit mir wieder ein."
 
Es war Tragik und Unheil, dass Walter uns so früh genommen wurde.
 
Er hätte die mir damals überaus beschränkt gewordenen Mittel ergänzen, bzw. sie mir zur besseren Ermöglichung des später für Hans in Aussicht genommenen juristischen Studiums bereit halten können.
 
Dem kategorischen Muss zu bescheidenen Studienjahren und zu einer in ruhigen Bahnen verlaufenden Ausbildung unseres Hans stand aber ein damals durch Inflation und Revolution bedingter materieller Zeitengeist ebenso hindernd im Wege wie der Drang, den Hans durch kaufmännische Veranlagung in sich verspürte, Witz und Verstand in freier Betätigung zu probieren, um zu schnelleren Erfolgen zu gelangen. Vom trockenen akademischen Studium wollte er damals nichts wissen. Ihn schreckten Mephistos Worte in Faust:
"Da wird der Geist Euch wohl dressiert,
in spanische Stiefel eingeschnürt,
dass er bedächtiglich fortan
Hinschleiche die Gedankenbahn."
 
Seine schnelle auffassungs- und Kombinationsgabe sowie große Intelligenz, verbunden mit Herzensgüte und menschlichem Fühlen hätten ihn in gleicher Weise zum Juristen prädestiniert wie unseren Helmut.
 
Nun ist er aber auch bestens zum Ziel gekommen, hat die kaufmännische Tradition wieder aufgenommen und hat heute das stolze Bewusstsein, der eigene Schmied seines Glückes geworden zu sein.
 
Es ist das sein zweiter Sieg.
Seinen ersten Sieg trug er als elfjähriger Junge am Tage der Erstürmung des Forts Douomont vor Verdun, im März 1916, über sich davon. Wir beide waren zur feierlichen Verkündung der Einnahme der Feste zum Rathaus inmitten von Metz gegangen. Als wir gerade über einen großen, freien Platz zurückkamen, flogen ihn feindliche Flieger an, die bereits Bomben geworfen hatten. Da ich mich in Uniform befand, konnte ich mich nach damaligem Brauch nicht in Deckung begeben, bat aber Hans in dieser kritischen Situation inständig, es selbst eiligst zu tun. Er verweigerte es mir jedoch mit den Worten, dass er sich nicht von mir trennen werde.
 
Für seine Gedankenblätter habe ich ihm Verse geschrieben, die mit den Worten endeten:
"Am Donnerstag im großen Krieg,
da hattest Du deinen ersten Sieg."
 
Unsere Mutter hat in ihrem Leben das Glück, das ihr beschieden war, stets wissend hingenommen und es an die Ihrigen weitergegeben. Das Leid aber, das ihr auferlegt wurde hat sie groß getragen und es still im Herzen bewahrt.
 
Mit siebzehn Jahren, als Braut, verliert sie ihre gütige Mutter.
Auf der Höhe seines Schaffens wird ihr der über alles geliebte Mann entrissen.
Dann nimmt ihr wieder grausames Schicksal ihren jüngsten Sohn Walter, den zu erziehen, für dessen Gesundheit zu sorgen, den für Enttäuschungen zu entschädigen ihr Lebensziel während ihrer 31 jährigen Witwenschaft gewesen ist.
 
In den furchtbaren Zeit des Zusammenbruchs Deutschlands brachte sie nachfolgende Inflation auch für sie Verluste und Einschränkungen aller Art. Sie nimmt allen Kummer auf sich, und zeigt, wie man mit wirklichem Seelenadel verliert und verzichtet.
 
Und zuletzt trifft sie eine schwere körperliche Behinderung. Fünfviertel Jahre bleibt sie gelähmt ans Bett gefesselt, sie, die niemals vorher krank gewesen ist. Wer kann es ermessen und sagen, was es bedeutet hat, all die langen Monate und Nächte, den einsamen, leidvollen Gedanken nachzugehen?
Ihr reiches Innenleben gibt ihr Stärke und Trost. Sie ist beglückt durch die täglichen Liebesdienste unserer Dorothee und durch die Besuche von Heinz und mir an ihr Krankenlager.
 
Was sie uns allen immer in ihrem ganzen Leben hat sein wollen, das offenbarte sich noch einmal bei der Passion von Walter.
Als ihm zuletzt nach schwerer Operation nur noch kurze Frist gegeben war, da hat sie während der letzten drei Tage und während der Nächte vor seinem Sterben als 75 jährige Mutter an seinem Schmerzenslager auf hartem Stuhl gesessen und gewacht, nur auf ihn geschaut, um an seinen Augen den letzten Wunsch ablesen zu können, um ihm noch einmal zu helfen und ihm Trost und Liebe zu geben.
 
Wundervollste Betätigung der Liebe!
 
Der Tod hat sie wenige Wochen vor ihrem achtzigsten Lebensjahre ganz still und sanft von uns genommen.
Ihre edlen Züge waren zuletzt schon verklärt. Sie sah sich mit den Ihrigen vereint.
 
Wenn aber jemandem in späteren Generationen von uns eine sehr große Güte zu eigen sein wird, dann ist es ein Teil von ihr, von der Sonne, die uns zuerst geleuchtet hat.
 
Meine Führung ist beendet.
 
Ich habe sie niedergeschrieben, um Euch Freude zu bereiten und um Euch für eine hierzu bereite Stunde an diejenigen zu erinnern, die vor Euch und mit Euch gewesen sind und auch - an mich.
 
Wiesbaden, 28. Dezember 1942
am Tage meines 75. Geburtstages.