Besonnte   Vergangenheit
 
 
 
Teil I. Die Eltern und Geschwister meiner Mutter  und deren Vorfahren.
 
 
Erzählt  von
Erhard Sommerbrodt
Oberstleutnant a.D.
geb. am 28.12.1867 in Breslau, gest. am 28.8.1956 in Wiesbaden 
   
 
 
An mein Elternhaus habe ich die liebsten Erinnerungen. Sie knüpfen sich vielfach an den meinen Eltern gehörenden Besitz in Breslau auf der Neuen Taschenstraße Nr.6. Es war ein Familienhaus, unter dessen Dach verwandtschaftliches Verstehen in herzlicher und aufrichtiger Harmonie anzutreffen war. Im Parterre wohnte Großpapa Girardelli, der Vater meiner Mutter, im ersten und halben zweiten meine Eltern, im anderen Teil des zweiten Obergeschosses meine Großtante Luise, die Witwe des Bruders Otto meines Großvaters Heinrich Sommerbrodt und im dritten Stockwerk Großmama Minna Sommerbrodt.
Am liebsten war ich und Bruder Heinz im Parterre beim Großpapa Girardelli. Ihm standen wir schon in unseren jungen Jahren am nächsten. Unsere Besuche bei Großtante Luise und Großmama waren meistens nur Artigkeitsbesuche auf Veranlassung unserer Eltern, wenigstens in unseren Schul- und Jünglingsjahren. Großmama erzählte uns stets nur aus ihrer Vergangenheit und die fromme Tante Luise nur von des Jenseits himmlischen Freuden. Hierfür waren unsere Interessen aber noch nicht erwacht. Großpapa dagegen lebte mit uns ganz in der Gegenwart. Wir konnten ihm von unseren Interessen und kleinen Erlebnissen und Streichen erzählen und er plauderte gern über seine weiten Reisen zu Wasser und zu Lande am Mittelmeer. Eine fremde Welt erschloss sich uns, die wir auch einmal schauen wollten. Und wenn er auf die Pfaffen und Juden zu schimpften kam, da kamen wir uns sehr gehoben und erwachsen vor. Immer war er heiter und aufgeschlossen. In unbeschreiblicher Güte und Herzlichkeit nahm er uns stets bei sich auf.
Und wenn er sich die sonnige Adria und den tiefblauen Himmel seiner schönen italienischen Heimat herbeisehnte oder ein italienisches Lied zu pfeifen begann, dann war das für Heinz die erwünschte Gelegenheit, aus seinem Repertoire italienischer Volkslieder auszupacken und von mir unterstützt, solange zu singen, bis jeder von uns eine blanke Reichsmark, der Einheitstaxe Großpapas, in Händen hielt.
Trotz solcher für uns hohen "Nebeneinnahmen" zum kleinen Taschengeld blieben wir sparsam. Meistens wurde damit der Bestand unseres "Zoologischen Gartens" aufgefüllt, der im Holzschuppen im Hof bei uns angelegt war. Wir hielten uns Karnickel, Meerschweinchen und viele Vogelarten. Auch selbstgefangene Fledermäuse fristeten ihr Dasein bei uns. Den Rest unserer Gesamteinnahmen mussten wir zur Anschaffung von Schulutensilien verwenden und leisteten uns kleine Aufmerksamkeiten zu den Geburtstagen der Eltern oder zu Weihnachten. Wir hatten Ausgabenbücher zu führen, die Mama öfters kontrollierte.
Die Wohnung von Großpapa war behaglich eingerichtet. Die vielen, aus früheren Zeiten noch vorhandenen Möbelstücke bestanden aus schwerem, glatt polierten, sehr schönem gemasertem Mahagoni - oder Nussbaumholz und stammten aus Triest und Wien. Bevor Großpapa als Witwer zu uns auf die Taschenstraße zog, hatte er mit seiner Familie im ersten Stockwerk eines Hauses am Ring Nr.2 gewohnt, das als das höchste, alte Giebelhaus der Stadt Breslau bekannt ist und heute unter Denkmalschutz steht.
Großpapa war Freigeist. Er glaubte nicht an "Heiligenablass und Reliquienschwindel" und hasste die Pfaffen und Juden gleich stark. Religiöse Gespräche oder gar Belehrungen und Bekehrungen, wie solche die fromme Tante Luise an den Sonntagen bei uns einzuflechten versuchte, wies er stets ab. So hatte er, entsprechend seiner weltanschaulichen Einstellung auch nichts einzuwenden gehabt, dass unsere Mutter nach ihrer Verlobung von ihrer katholischen Religion zur evangelischen übertrat, ein Schritt, der durch die immer aufrecht erhalten gewesene, stolze Familientradition der Sommerbrodt geboten war.
Mama hat die Abkehr von ihrem ersten Glauben zwar niemals bereut, hat aber in allen späteren Lebensjahren geklagt, dass die evangelische Kirche allzu prosaisch und nüchtern auf sie einwirke und dass sie, im Gegensatz zur katholischen Kirche sich gar nicht ihrer Mitglieder annähme und ihnen helfe. Den ihre Sinne immer gefangen gehaltenen Eindruck ihrer Firmung im herrlich schönen Stephansdom in Wien und der nachfolgenden ersten Kommunion hat sie bis in ihr hohes Alter bewahrt gehabt. Aber auch Reminiszenzen an die "Gottesmutter Maria als Fürsprecherin und Helferin" sind niemals wieder ganz zu verdrängen gewesen. Als Papa und später Walter bereits bedrohlich erkrankt waren, als ich und Heinz im Felde standen, hat sie im Dom zu Breslau, dann auch in Frankfurt/Main, Maria Kerzen geweiht, damit sie helfen möge.
Es hat sie auch mächtig bewegt, dass in ihren letzten Lebensmonat ein Franziskanerpriester ungerufen bei ihr erschien, um sie vorsorglich in den Schoß der allein selig machenden Kirche wieder zurückzuführen. Beim ersten Besuch dieses als bestrickend liebenswürdig und würdevoll geschilderten Mannes, war Mama zu sehr überrascht und bestürzt gewesen, um ihm überhaupt irgend welche bestimmte Antwort geben zu können. Sie vermochte sich ihm nicht anders zu entziehen, als dass sie ihm sagte, dass sie sich zu nichts entschließen könne. Bei seinem zweiten und letzten Versuch, Mamas Seele zu retten, ließ sie sich durch die einschmeichelnden Worte des Pfaffen aber nicht verwirren. Sie sagte ihm sogleich, dass sie in denjenigen Himmel Wolle, in dem schon ihr Mann sei.
Erfüllt von hoher Befriedigung und Freude über diese schöne Lösung hat Mama mir und Heinz wenige Tage später das alles erzählt In ihrem einsamen, langen Krankheitslager ein sie gewiss sehr bewegender Vorfall.
An allen Sonn- und Feiertagen war Großpapa Girardelli stets, Großmama Sommerbrodt meistens und die Großtante Luise zuweilen Gast der Eltern zum Mittagessen und dann gewöhnlich auch zur Vesper und zum Abend.
Die Unterhaltung wurde dabei stets sehr angeregt geführt, wobei wir zwei Jungen auch nicht zu kurz kamen und uns übergangen fühlen brauchten. Papa, der in der Nationalliberalen Partei aktiv war, liebte gern politische Fragen zu streifen, stets hierbei von der klugen Großmama und von der streitbaren Tante Luise unterstützt. Neuigkeiten in Handel und Industrie, Gespräche und Tageswitze an der Börse in der vorübergegangenen Woche brauchte Großpapa Girardelli mit. Die Ereignisse im damaligen Krieg zwischen Russland und der Türkei wurden eingehend besprochen, wie Vorkommnisse an der total verjudeten Breslauer Universität und das Ergehen das Stadt Schweidnitz und der dort verbliebenen vielen bekannten von Papa und Großmama. Ebenso hörten wir viel über die Triestiner Verwandten und hörten von Wien, wie zauberhaft schön und um wieviel großer es als Breslau sei. Der Prater, die Rotunde, der damals größte Kuppelbau der Wiener Weltausstellung, der Stephansdom - der "Steffel", die Ringstraße und die b
este Konditorei Sacher, mit ihren berühmten Pfannekuchen, den Aprikosenkrapferln, wurden mir und Heinz zu feststehenden Begriffen.
Zum Abendessen fanden wir uns alle im Sommer in unserem Garten wieder zusammen. Wenn in ihm die vielen Rosen blühten, war er besonders schön. Er war zwar nur 60 zu 50 Meter groß, erschien aber viel größer zu sein, weil sich ihm eine lange Reihe fremder Gärten anschloss, die sich bis zur Blumenstraße, also einer Tiefe von rund 400 Metern und in wechselnden Breiten von 100 bis 200 Metern, ausdehnte. Der schöne Blick von den hinteren Zimmern unseres Hauses, gleichsam wie auf einen weiten Park, hatte den Ausschlag gegeben, dass sich die Eltern dieses Grundstück ausgewählt und von Großpapa auch bereits in den ersten Jahren ihrer Ehe erhalten hatten.
Papa war in seinen wenigen freien Stunden fast immer im Garten zu finden. Er war von ihm mit unzähligen Rosenstöcken und immer in Blühte befindlichen Monatsrosen ausgestattet worden. Die Rasenflächen waren mit veredelten Maiglöckchen, den Lieblingsblumen von Mama, umsäumt. Auch einen Steingarten hatten wir, in den u.a. auch verschiedene Alpenblumen gut gediehen, die wir uns jedes Mal aus der Schweiz mitgebracht hatten.
Von den neun Obstbäumen konnten wir fast alle Jahre viele Wäschekörbe bester Birnen und guter, großer Äpfel ernten. In einer der sonnigen Ecken hatte ich und Heinz unseren "Privatgarten" mit Zelt, Sitzgelegenheit, selbstgebauten Springbrunnen und vielen, selbst gepflanzten Blumen darum. Stets nisteten Singvögel bei uns und im wilden Wein das fensterlosen, nachbarlichen Fabrikgebäude für Kunstglasmalerei hausten bei dauerndem Zank und Lärm unzählige Sperlinge.
 
Als die Großeltern Girardelli im Jahre 1865 von Wien nach Breslau übergesiedelt waren, weil sich hier eine weitere Fabrik nach den bereits in Wien und Triest vorhandenen erstehen ließ, hatte ihr Auftreten in der damals vom Fremdenverkehr noch vernachlässigten Provinzhauptstadt beträchtliches Aufsehen erregt. "Fremde Italiener" mit Pferd und Wagen, großzügig auftretend, Frau und Tochter auffallend hübsch - wie mir dieses durch die Jahrzehnte immer wieder erzählt worden ist - das machte sie bald bekannt.
Am 16.Januar 1866 hatten sich die Eltern verlobt und zwar auf demjenigen Teil der Eisbahn auf dem Breslauer Stadtgraben, der zwischen der Neuen Taschenstraße und der Schweidnitzerstraße gelegen ist. Papa war weder Italiener noch Kaufmann und Mama doch erst sechzehn und ein halbes Jahr alt. Großmama hätte für ihre einzige Tochter wohl auch lieber einen katholischen Schwiegersohn haben wollen.
Die elterlichen ersten Bedenken verloren sich aber bald. Das junge Paar hielt fest zusammen und fand taktvolle Unterstützung durch die schon viele Jahre in der Familie der Großeltern aufgenommene Hausdame, Fräulein Kitscher. Ihrer sei besonders gedacht. Durch die Jahrzehnte hat sie uns allen als unsere Wahltante nahe gestanden uns von uns allen viel Liebe und treue Freundschaft empfangen und uns diese aus übervollem Herzen wieder zurückgegeben. Wegen ihrer Biedermeierlöckchen zu beiden Seiten des Scheitels hieß sie bei uns nur die Lockentante. Vor der engen Hausgemeinschaft bei den Großeltern war sie die Hausdame beim verwitweten Oberst von Tiele-Winckler in Miechowitz in Oberschlesien gewesen und hatte dessen Sohn Franz-Hubert, den bekannten späteren Graf von Tiele-Winckler, erzogen. Der Zufall wollte es, dass dieser Landrat in meiner Garnison Neustadt war, als ich dort frohe Leutnantsjahre in selbstständiger Adjutantenstellung verbrachte. Da wir durch unsere gemeinsame Lockentante schon
viel voneinander wussten, bildeten sich sehr bald freundschaftliche Beziehungen zwischen uns heraus. Ich verlebte viele anregende Stunden im kleinen Familienkreis oder auch gelegentlich der Besuche prominenter und amüsanter Männer und deren Frauen aus der Berliner, Wiener und Budapester Gesellschaft im gastfreien Landratshaus. Leider war ich kein Jäger, so dass mir dadurch manche mir sonst zugedachte gewesene Jagdeinladung verloren ging.
 
Von unserer Lockentante ist noch zu erzählen, dass sie sich nach der Hochzeit von Mama in eine freundliche, sonnige, kleine Wohnung auf der großen Feldstraße in Breslau zurückgezogen hat. Dort habe ich sie auf meinem Rückweg vom ihr nahen Johannesgymnasium oft besucht, wenn ich ihr die Tischeinladungen der Eltern für den nächsten Tag überbrachte. Ihre Zimmergenossin war durch alle Jahre eine Nachtigall.
Als Papa eines Tages zu der gütigen, trotz ihrer achtzig Jahre noch sehr rüstig gebliebenen Frau, eilends von den Hausbewohnern gerufen worden war, fand er sie auf ihrem Lehnstuhl sitzend bereits entschlafen vor. Auf ihrem Schoß hielt sie mit friedvollem Gesichtsausdruck das Gebauer, in dem die sonst so zahme Nachtigall ängstlich flatterte. Ihre Standuhr aus der Biedermeierzeit, die vor ihr ihre Eltern besessen hatten, hat sie für Mama bestimmt. Nun steht sie auf meinem Schreibtisch. Der Vater unserer Lockentante, der k. und k. Österreichische General von Kitscher, hatte nach seiner Verabschiedung sich nach Wien zurückgezogen, seine einstige Garnison in jüngeren Jahren.
 
Der zu frühe Tod von Großmama Ida Girardelli in der Blüte ihrer Jahre im Oktober 1866 lastete als tiefer Schatten auf dem überaus glücklich gewesenen Familienleben im großelterlichen Hause. Sie war der Mittelpunkt gewesen.
Am schwersten traf es die beiden jüngeren Brüder von Mama, Ettore und Vittorio. Der deutschen Sprache noch nicht vollkommen mächtig, von einer noch ungebändigten Vitalität größten Ausmaßes und durch den Wechsel von Wien nach Breslau in ihren Leistungen auf der Schule etwas zurückgeblieben, kamen sie zunächst in ein Internat nach Eisenach und später nach Ostrowo bei Filehne in der Provinz Posen. Diese beiden mit Primareife abschließenden Anstalten mögen von Papa gewiss gut ausgesucht gewesen sein - er hatte dorthin auch persönliche Beziehungen - für die erst noch 10 und 8 Jahre alten Knaben erfüllten sie jedoch nicht voll ihren Zweck. Ihr Widerwillen gegen die dort herrschenden, nach preußisch-militärischen Vorbild geformter Geist wurde bei ihnen, die an weichere Umgangsformen gewöhnt waren und die in der Fremde und Einsamkeit sich nach dem Elternhaus zurücksehnten immer größer. Sie saßen zwar ihre Jahre dort ab, dafür hatte sich Papa eingesetzt. Das tiefere deutsche Wesen war ihnen aber fü
r lange Jahre verleidet und verschlossen worden. Ettore litt unter der Strenge und dem Zwang um vieles mehr noch als Vittorio, der weniger differenziert veranlagt war. Der Lichtblick für beide waren die Ferienzeiten, die sie in Breslau bei ihrem Vater und bei uns verbrachten. Mama sorgte in jeder Beziehung für sie und betreute sie zu Haus wie in der Fremde durch alle Jahre wie in mütterlicher Liebe.
Nach Abschluss der Schulzeit traten beide Onkel in die väterliche Fabrik in Triest ein, um sich dort die ersten kaufmännischen und technischen Kenntnisse anzueignen.
Onkel Vittorio ist dann während seines ganzen Lebens in Triest wohnen geblieben, zumal die Fabrik nach dem im November 1887 erfolgten Tode seines Vaters in seinen Alleinbesitz übergegangen war. Die beiden anderen Fabriken in Wien und Breslau hatte Großpapa in den Jahren 1881 und 1882 verkauft. Die Breslauer Spritfabrik ging dadurch in den Besitz der bekannten Ostwerke AG über, die heute im Konzern sind mit den beiden größten und beliebtesten Berliner Brauereien "Zum Schultheiß" und "Patzenhofer", mit börsengängigen Aktienbestand.
"Wer durchhält, der gewinnt!" Eine alte Erfahrung, die sich auch hier wieder bewahrheitet hätte. Onkel Vittorio heiratete im Jahre 1884 Beatrice Gräfin Muratti, die Tochter des Conte di muratti, Besitzer der "Privat und Effekten Bank" in Triest. Aus dieser sehr glücklichen Ehe gingen drei Töchter hervor: Mercedes, Anita und Lily.
Alle Triestiner Verwandten fühlten sich uns allzeit familiär und rassisch sehr nahe stehend und betonten stets unsere Blutszugehörigkeit zu ihnen. Das war bei mir und Heinz auch offensichtlich. Wir glichen Mama; die italienische Rasse war bei uns - am meisten bei mir - dominierend. Walter und mein mit sechs Monaten verstorbener kleiner Bruder Georg dagegen hatten von Papas Seite her in überwiegenden Maße germanischen Typ mit blauen Augen und blondem Haar. Wir verstanden uns mit den Verwandten in Triest immer sehr gut. Der stets rege und herzliche Briefverkehr überbrückte geistig die großen räumlichen Entfernungen. Die wenigen gegenseitigen Besuche hätten sonst dazu nicht ausgereicht.
Onkel Vittorio war ein ausgeprägter Lebensbejaher, groß an Figur, kraftstrotzend, das Bild der Gesundheit, der seine Freude am Dasein sogleich auch seiner Umgebung zu übertragen verstand. Mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen stehend, kaufmännisch nüchtern, einen Vorteil sogleich erkennend, dabei von großer Herzlichkeit und Aufgeschlossenheit, soll er am meisten seiner Mutter geglichen haben. In vorsichtiger Einschätzung uns Auswertung der im Sommer 1914 aufkommenden ersten politischen Trübungen kam er nach Berlin und holte sich seine dort im Depot befindlichen Wertpapiere ab. "Sicher ist sicher!" pflegte er damals zu uns zu sagen, ohne selbst viel mehr als wir von dem heraufziehenden Unheil zu wissen. Unfassbar noch damals für uns, dass das Bestehende sich ändern oder gar schwinden könne. Im Ausland mögen die Hinterhältigkeiten von Englands Einkreisung von Deutschland und auch dem Vernichtungswillen des jüdischen Freimaurertums noch nicht Allgemeingut der Erkenntnis gewesen sein,
fest steht aber, dass politische und wirtschaftliche Beobachtungen allgemeiner Art bereits nachdenklich machen und zur Vorsicht gemahnen mussten. Gerade hierüber und im Zusammenhang mit Onkel Vittorios damaligem Eintreffen in Berlin und Frankfurt/Main habe ich mich eingehend in meiner Denkschrift "Soll und Haben" geäußert. Die ersten Anzeichen des heraufsteigenden Weltkrieges waren auch an mich heraufgetragen gewesen, nur habe ich sie damals nicht verstehen und auch nicht auswerten können.
Onkel Ettore hatte sich nach seiner Lehrzeit in Triest auch noch die väterliche Fabrik in Wien, die Firma Girardelli, Mussatti & Co., kennen gelernt. Da er für den kaufmännischen Beruf aber besondere Interessen nicht aufbrachte, siedelte er zu seinem Vater nach Breslau über. Für Großpapa war das eine große Freude mit viel Aufregung im für ihn einsamen Wochenablauf. Onkel Ettore zog in Großpapas Wohnung; ein weiteres Familienmitglied für unser Haus. Italienisch wurde sogleich wieder beider Umgangssprache, was wiederum auf unsere Eltern auch nicht ohne Einfluss blieb. Aber auch ich und Heinz profitierten hiervon. Wir schärften unser Ohr für den Wohlklang der italienischen Sprache, erfassten den Sinn der gehörten Worte und blieben bald nicht mehr stumm. Die Wiedergabe der zustimmenden oder ablehnenden temperamentvollen Worte oder kurze Sätze machten bald keine Schwierigkeit. In gutem Einfühlungsvermögen und ohne Hemmungen wandten wir sie und den sich rasch erweiternden Vokabelschatz richtig u
nd ebenso temperamentvoll an. Spielend hätten wir die italienische Sprache beherrschen lernen können, wenn Mama öfters in ihrer Muttersprache mit uns gesprochen oder mit uns Bücher gelesen hätte. Sie widersetzte sich aber immer wieder unseren bitten, weil, wie sie stets einwendete, der Triestiner Dialekt, den sie und Großpapa und Onkel Ettore sprachen, unschön und unrein sei und dieser uns später unzuträglich sein würde.
Onkel Ettore war differenzierter und feinsinniger als Onkel Vittorio. Er hielt sich im Verkehr mit Menschen zuerst meist zurück und ließ sich lieber finden, als dass er andere zu erschließen suchte, eine Gepflogenheit, die übrigens auch mein Bruder Walter zu eigen hatte. Onkel Ettore war eine Künstlernatur mit dichterischer Veranlagung, die in seinen im Jahr 1888 herausgegebenen lyrischen Gedichten sichtbar Ausdruck gefunden hatte. Viele Gedichte in diesen "Jugendklängen" wurden wegen ihres dichterisch wertvollen Gehalts gern von der Kritik anerkannt, manche aber auch wegen sprachlicher Unebenheiten schonungslos zerpflückt. Wenn er sich auch gegen seine Kritiker auflehnte, so versagte seine Schaffensfreude dadurch nicht. In den Tageszeitungen und in Zeitschriften waren öfters zarte, tiefempfundene Gedichte von ihm zu finden.
Im Jahre 1884 heiratete Onkel Ettore Agnes, Martha Peschek, die Tochter eines Subalternbeamten in Breslau. Obwohl sie ihm immer eine musterhaft gute und häuslich tüchtige Frau war, die ganz in seinen Interessen aufging, seine Eigenheiten lustig hinzunehmen und zu lenken verstand, vermochte sie sich bei meinen Eltern nicht voll durchsetzen. Die seltenen Zusammenkünfte gelegentlicher Abendeinladungen reichten niemals aus, um einen gewissen Abstand, der zwischen uns bestand, auszugleichen. Eine Entfremdung zunehmender Art war dadurch unausbleiblich, so sehr Mama in großer Herzlichkeit auch dagegen ankämpfte.
Ich stand Onkel Ettore von Jugend an nahe. Wir verstanden einander gut. Charakterlich und auch äußerlich hatten wir eine gewisse Ähnlichkeit. Oft erhielt ich Beweise seiner Zuneigung, besonders nachdem ich Offizier geworden war. Manche lustige Einladung in gepflegte Breslauer Restaurants verdanke ich ihm wie auch manche mich erfreuende Zuneigung, die stets überraschend in meiner Garnisonstadt Neustadt in Oberschlesien eintraf, z.B. einmal ein brauner, sehr hübscher Dackelhund, oder eine Kiste mit französischem Sekt, oder für die Manöverausrüstung Konserven und Likör. Auch mein Zigarettenetui, im Geschmack der damaligen Mode mit dem Emailbild einer Balletteuse, trägt seine Widmung an mich.
Aus der Ehe von Onkel Ettore sind zwei Töchter hervorgegangen, Rita und Thea.
Rita war von früher Kindheit an immer verschlossen und scheu, zwar weniger ihren Eltern gegenüber als zu allen anderen Menschen. In ihrer Schulzeit war sie gegen ihre Mitschülerinnen direkt ablehnend eingestellt und daher bei diesen unbeliebt und unwillig fügte sie sich der Klassenordnung. An Liebe und Güte hat es seitens ihrer Eltern nicht gefehlt, ihren Charakter umzustellen. Vielleicht sind sie zu nachsichtig gewesen, wie es sich Onkel Ettore später selbst zum Vorwurf gemacht hat.
Rita stand, obgleich nicht ohne musikalische und dichterische Talente ausgestattet, doch weit hinter ihrer jüngeren Schwester Thea zurück, auch in Äußerlichkeiten. Traten beide zusammen in die Erscheinung, so war stets Thea die umworbenere und gefeiertere der Schwestern. Es entstanden Minderwertigkeitskomplexe, die sie nur immer noch vergrämten und ihr das Selbstbewusstsein raubten. Es ist vielleicht anzunehmen gewesen, dass durch eine glückliche Ehe Rita zu sich selbst gefunden hätte.
Ihr schicksalhaftes Unglück war es, dass ihre zu einem bereits verheirateten Mann entbrannte Liebe zu erhofften Ziel nicht hat führen können. Sie hatte diesen in ihrem 25. Lebensjahre im Dresdner Schriftsteller-Club kennengelernt. Da sich der auf beiden Seiten gewünschten ehelichen Verbindung unüberwindliche Schwierigkeiten entgegenstellten, schied sie freiwillig aus dem Leben. Um ihren Entschluss auszuführen, hatte sie sich heimlich aus der elterlichen Villa in Klodsche bei Dresden entfernt und sich nach dem ihr von Reisen bekannte Nürnberg begeben. Von dort erhielten ihre bereits von bangen Sorgen erfassten Eltern die erschütternde Benachrichtigung, dass sie im dortigen "Dutzend-Teich" den Freitod gesucht und gefunden habe.
Thea war in jeder Beziehung ein hochwertiger Mensch. In ihr offenbarte sich, über ihren Vater weit hinausreichend, eine große dichterische Begabung. In gleich hohem Maße war sie musikalisch von einer gütigen Natur ausgestattet worden. Sie komponierte, dichtete und schriftstellerte und brachte tief empfundene, meisterhafte Schöpfungen heraus. Auf dem Konservatorium bis zur Künstlerklasse vollendet ausgebildet, interpretierte sie besonders gern Chopin und Liszt und Beethoven, war aber groß und selbstlos genug, um auch jeden anderen Wunsch dankbarer Zuhörer zu erfüllen. Sie zeichnete aber auch und fertigte Scherenschnitte und konnte Landschaftsbilder als Spiegelbild eigener Stimmungen in Seide so kunstvoll zu sticken, dass sie wie Pastellbilder, in den zartesten Farbtönen gemalt, auf den Beschauer wirkten. Auf den Kunstausstellungen fanden sie stets ihre Käufer. Bald erhielt Thea einen Ruf als Lehrerin an die Kunstakademie Dresdens. Ihre immer liebenswürdig gebliebenen Talente wie ihre nie ve
rsiegende Schaffensfreude kamen dort zur schönsten Entfaltung.
Aber auch sportlich stand sie nicht zurück. Sie leitete nebenher den erstmalig der Kunstakademie angegliederten Unterricht für körperliche Bewegung und Erstarkung für junge Mädchen und Frauen. Bei Thea ergänzten Körper und Seele einander in wundervoller Harmonie. Wie ihre Seele so war auch ihr Körper beschwingter, vollendeter Rhythmus.
Von welchem elterlichen Erb- und Baugut eine solche Fülle ihrer Talente gekommen sein mag, ist ohne weiteres nicht ersichtlich. Der Zweiklang, gebildet aus ihres Vaters idealer, differenzierter Veranlagung und aus der Mutter unverbrauchter Kraft und Frohnatur, hatte wohl die Vorbedingung hierzu geschaffen. Gebettet in einem glücklichen Familienleben, auf immer besonntem Lebenswege dahinschreitend, gelangten die ihr verliehenen Gaben zur vollen Blühte. Die Synthese zwischen romanischem und germanischem Blut war dann der Urquell, der hier sichtbar werdenden, edlen Seele.
Aus Jugend und Anmut und sprudelnder Lebensfreude, aus sie beglückendem Schaffen, aus Anerkennung und Erfolgen nahm sie ein tragischer Tod aus dieser Zeitlichkeit. Eine kleine Verletzung an der Hand, kaum gespürt und nicht beachtet, führte zu einer Blutvergiftung, der sie nach wenigen Tagen, am 11. Dezember 1912 erlag, tief beklagt, nicht allein von den erneut schwer geprüften Eltern, sondern auch von dem großen Kreis ihrer Verehrer ihres mühelos gegebenen hinreißenden, künstlerischen Schaffens als Ausdruck eines abgeklärten, wertvollen Menschen.
Als Zeichen ihrer Dankbarkeit ließ die Kunstakademie ihr über dem Grabe ein Marmordenkmal mit Widmung von ihr errichten. Ein Nachruf auf die Frühvollendete von ihr in einer Dresdner Zeitung lässt sie würdigste, begeisterte Worte auf das finden, was Thea in ihrer Mission als Künstlerin und Verehrungswerteste Persönlichkeit den Mitmenschen und in Sonderheit der Akademie während ihres kurzen Erdenlebens gewesen ist.
 
Nach dem Tode auch dieses Kindes kränkelte Onkel Ettore dahin. Alle seine Hoffnungen waren mit Thea zu Grabe getragen worden. Wie viel Freude für die Eltern musste unerfüllt bleiben! Wie sehr hätte Thea ihrem Eltern im Alter die liebevolle Stütze sein können!
 
Der Verlust seines einst großen Vermögens durch Inflation und noch mehr durch Deflation beschleunigte den körperlichen Verfall. Sein Haus in Breslau, Neue Taschenstr. 21 hatte er auch verkaufen müssen. Er starb zu Beginn seines 68. Lebensjahres an einem Schlaganfall in seiner inzwischen von Klodsche nach Dresden, Hindenburgstrasse 16, verlegten Wohnung.
Auf dem "Inneren kath. Friedhof" hat er neben Thea seine letzte Ruhestätte gefunden.
 
Tante Agnes überlebte ihn noch elf Jahre.
Die kath. Kirche hatte sich ihrer in ihrer Trauer und Einsamkeit helfend und beratend angenommen. Durch deren Vermittelung fand sie im Altersheim "Wettinstift" in Coswig bei Dresden während ihrer letzten Lebensjahre liebevolle Aufnahme. Als materielle Gegengabe hatte Tante Agnes ihre sorgsam gehütete, wertvolle Wohnungseinrichtung der Kirche testamentarisch vorher vermachen müssen.
Tante Agnes starb 10 Tage nach Vollendung ihres 75. Lebensjahres an Altersschwäche.
 
Den Wechsel irdischen Glückes hat sie, wie selten ein Mensch, kennengelernt.
Das Bewusstsein, sehr viel Liebe und Glück besessen zu haben, hat sie in Unglück und Trauer nicht verzagen lassen. Dankbaren Herzens hat sie noch in ihren letzten Tagen hiervon zu erzählen gewusst.
 
Jedem der beiden Brüder von Mama war nach dem Tode von Großpapa ein größerer Anteil des Nachlasses nach italienischem Recht zugefallen als Mama. Ihre anteiliges Tochtervermächtnis betrug daher vierhundertundzwölftausend Mark in Wertpapieren und das ihr bereits im zweiten Jahre ihrer Verheiratung von Großpapa vorausvermachte Haus in Breslau, Neue Taschenstrasse 6.
Onkel Ettore erhielt nur Wertpapiere und Onkel Vittorio die Fabrik in Triest und Wertpapiere in anteiliger Höhe.
 
Meine Eltern übersahen vollständig die pekuniäre Benachteiligung durch die Forderungen des in Italien bräuchlichen Erbrechtes. Die nicht allzu große Benachteiligung trat überhaupt niemals in Erscheinung. Papa hatte aus ärztlicher Praxis, aus seinen Collegs und Veröffentlichungen Ausgleich in reichlichem Umfang. Papa war mit 35 Jahren bereits Professor geworden.
 
Bei seinen Lebzeiten hatte Großpapa den Eltern überdies alle ihren kleinen und großen Wünsche über die regelmäßigen monatlichen Zulagen hinaus erfüllt. Wenn er Sonntags zu uns kam, übergab er oftmals Mama mit einem unbeschreiblich lustig-schelmischen Gesicht ein verschlossenes Couvert, sah die Eltern und uns Jungens der Reihe nach an und pfiff, wenn er besonders gut gelaunt war, wie der oft in unserem Garten zu hörende Vogel Pirol pfeift, nach Abschluss seiner Musterung unserer erwartungsvollen Gesichter. Mama flog darauf stets Großpapa um den Hals und ich und Heinz hielten in richtiger Auswertung des Erlebnisses mit unseren Liebkosungen auch nicht zurück und kauderwelschten dazu italienisch, das, wenn wir nicht gut mehr weiterkamen, in unbeschwerter Phantasie mit lateinischen Vokabeln durchsetzt wurde. Die Superlative spielten in Verherrlichung des Augenblickes eine Hauptrolle. Hierüber wiederum konnte sich Großpapa vor Lachen schütteln. Ich und Heinz aber wussten, dass wir ihn am Tage da
rauf wieder einmal "mit Erfolg" besuchen konnten.
 
Großmama Ida Girardelli entstammte demjenigen Zweig der Familie v. Socher, der im Jahre 1779 bereits in Triest ansässig geworden war. Von Klagenfurt waren sie dorthin über Spittal an der Drau gekommen. Gelegentlich eines nur für kurze Zeit in Neapel geplant gewesenen Aufenthaltes wurde dort Großmama Ida geboren; sie hatte eine Zwillingsschwester, und weitere zwei Brüder und noch eine Schwester. Mama erzählte uns oft von ihrer Mutter. Sie muss von einer sehr großen Herzensgüte gewesen sein. Es war ihr Bedürfnis, anderen eine Freude bereiten zu können. "Wie hätte sie Euch verwöhnt", waren die so oft wiederkehrenden Worte von Mama zu uns. Großmama Ida war von einem heiteren Gemüt, lebhaft, mitteilsam, lebensbejahend, und wie Mama, alles verstehend und daher nachsichtig und in ihrem Urteil vermittelnd. Sie war mittelgroß, etwas korpulent, von bester Gesundheit und hatte Zähne "wie die Perlen". Sie besaß alle guten Eigenschaften der Österreicherin. Den Zauber der Gemütlichkeit und Behaglichkeit
, der von ihr ausging, empfand jeden sogleich, mit dem sie zusammenkam. Den Ihrigen gab sie davon in unerschöpflichem Ausmaß.
 
Umso härter traf alle ihr so früher und tragischer Tod im kleinen schlesischen Badeort Kudowa.
 
Großpapa Girardelli war im Sommer 1866 mit seiner Familie dorthin übergesiedelt; ihn bestimmten hierzu einige Fälle von asiatischer Cholera, die zu dieser Zeit in Breslau aufgetreten waren. Solange Gefahr bestand, wollte er dadurch einer Ansteckung ausweichen. Man wohnte im Kurhaus.
Mitbestimmend für die Wahl diese Kurortes war, dass damals Papa während der Dauer des Krieges 1866 mit Österreich im nahen Schloss Nachod die chirurgische Abteilung des Johanniter-Lazaretts leitete. Schloss und Stadt Kudowa sind in Böhmen wenige Kilometer nur von der Grenze nach Preußen entfernt gelegen. Im Herbst 1909 habe ich vom Bad Kudowa aus das Schlachtfeld von Nachod besucht und das alte, auf einer Anhöhe gelegene Schloss aufgesucht. Der alte, würdige Kastellan, der mich führte, hatte noch deutliche Erinnerungen an seine Tätigkeit auf dem Schloss während jener Kriegszeit und zeigte mir die Säle und Zimmer, die für die Verwundeten hergerichtet gewesen waren, in denen Papa gewirkt hatte. Der Blick von dort auf die Stadt und weit hinaus auf die sonnendurchfluteten, böhmischen Fluren war wunderbar schön. Wie weit zurückliegend erschien es mir zu sein, dass die Eltern mit meinen Großeltern auch dort gewesen! Und doch waren es nur 43 Jahre!
 
An einem warmen Herbsttage damals wollte Großpapa mit seiner gesamten Familie, einschließlich also mit Papa als Bräutigam, den Nachmittagskaffee in einem etwa eine Stunde von Bad Kudowa entfernt liegenden Ausflugsort einnehmen. Alle wanderten zu Fuß dorthin, nur Großmama sollte zu Wagen nachkommen, weil sie sich wegen ihres Bruchleidens zu schonen hatte. Zum Staunen aller erschien sie aber nur wenig später als die anderen auch zu Fuß, überaus erfreut über die geglückte Überraschung. Sogleich beim Niedersetzen an dem Tisch begann sie über plötzlich auftretende, große Schmerzen zu klagen. Ihr Bruch hatte sich eingeklemmt!
 
Trotz aller nur möglichen Hilfe war ihr Leben nicht mehr zu retten gewesen. Auch die beiden aus Breslau und aus Wien telegraphisch herbeigerufenen Chirurgen kamen zu spät.
 
Großmama provisorische Beerdigung fand am 7. Oktober 1866 im Kirchdorf Tscherbeney bei Bad Kudowa statt. Darauf wurde sie in die Familiengruft der Girardelli nach Triest überführt. Diese befindet sich dort auf dem St. Anna-Friedhof.
 
Welch große Veränderung brachen dieser Trauerfall auch für Großpapa mit sich! Wie plötzlich war er vereinsamt! Die beiden Söhne kamen nach Thüringen in Pension und Mama heiratete etwa sechs Monate danach. Die Wohnung am Ring wurde aufgelöst und Großpapa bezog die kleine Parterrewohnung im Haus meiner Eltern, um die einundzwanzig Jahre seiner Zeit als Witwer in ihr zu verbleiben.
 
Im letzten Jahr seines Lebens wurde Großpapa hinfällig und klagte sehr über Müdigkeit. Zwar verbrachte er die Sonntage nach wie vor bei uns, legte sich aber bald nach Tisch, im großen Gegensatz zu früheren Zeiten, stets unter einer kleinen Entschuldigung, schlafen und ließ sich auch nicht dadurch stören, dass wir im Zimmer nebenan vesperten und plauderten. Sein großes Schlafbedürfnis wurde dann nur noch durch sein Abendessen unterbrochen.
 
Zwei Jahre vor seinem Tode hatte Großpapa noch eine Lungenentzündung zu überstehen gehabt. Mit Genugtuung erzählte er stets, dass er seine Rettung nur sich selbst zu verdanken habe. Stärkster Willen, nicht zu sterben, sondern noch weiter zu leben, habe ihn siegreich über die Krise seiner schweren Krankheit hinweggebracht.
 
Medikamente hat er, wie Pfaffen und Juden, niemals geschätzt und hat sich dank seiner guten gesundheitlichen Veranlagung die Ablehnung ärztlicher Hilfe auch gestatten können.
 
Am 5. November 1887 ist Großpapa in seinem 71. Lebensjahr nach vorausgegangenem Gehirnschlag in den Armen von Mama sanft entschlafen.
 
Auch er wurde in der Familiengruft in Triest überführt.
 
Im Spätherbst des Jahres 1890 stand ich dort am Grabe der Großeltern. Papa hätte mich zur Jahresfeier meiner Beförderung zum Offizier nach Oberitalien reisen lassen, obgleich ich bereits im Juli mit den Eltern, wie alljährlich, auf Rigi-First, oberhalb des Vierstädter Sees, oberhalb von Vitznau, gewesen war.
 
Mein Weg hat mich später leider niemals wieder nach Triest geführt, obgleich ich zweimal in seiner Nähe, in Venedig gewesen war. Teils lag das daran, dass ein weiterer Besuch von mir zu den Triestiner Verwandten in Begleitung meiner Eltern geplant war, und dass, als Papa uns vorzeitig genommen war, Mama ihre Reisen mit uns dorthin unternahm, wo Walter für seine Gesundheit am meisten Vorteil haben konnte. So suchten wir erst die Ost- und Nordseebäder auf, dann später Berchtesgaden, Kissingen, die Dolomiten, das Berner Oberland und das Engadin. Wenn ich aber aus dienstlichen Gründen meine Urlaubszeit nicht mit Mamas und Walters Sommerreisen in Einklang bringen konnte, entschädigte mich Mama mit einer Reise nach Beendigung des Manövers. Anstatt dann die franz. Riviera aufzusuchen, hätte ich (mit dem Ausgangspunkt Triest) besser bis Rom und Neapel fahren sollen. Wenn ich das aber damals nicht getan habe, so allein deswegen, weil ich mich nicht genügend gut für Rom vorbereitet hielt, trotz manc
her Vorstudien bereits, das ewige Rom, die Stadt humanistischer, klassischer Bildungseindrücke, selbst zu schauen. Ich ahnte es damals ja nicht, dass alljährliches Reisen einmal nicht mehr zu den selbstverständlichen Lebensgewohnheiten für mich, und die Meinigen, werden könnte. Ich glaube, dass mir Triest niemals entgehen und dass ich meine Verwandten dort oft wiedersehen würde, die es mit mir so herzlich gut meinten. Sie hatten sogar für mich bereits eine Braut gewusst.
 
Es ist gut, dass die bella signorina nicht auf mich gewartet hat!
 
Mama hat in ihrem 70. Lebensjahr (1919) zusammen mit Walter noch einmal ihre geliebte Vaterstadt, die Stadt ihrer ersten Jugendeindrücke, aufgesucht und nach langer Pause alle ihre Verwandten dort wiedergesehen. Sie hat von diesem sie sehr beglückenden Erlebnis bis in ihre letzten Wochen gezehrt. Sie erinnerte sich überhaupt bis zuletzt in einer wundervollen Frische an längst vergangene Begebenheiten. So erzählte sie mir einmal, noch Ende 1928, wie die Tafel bei ihrer Hochzeit in der Breslauer Alten Börse geschmückt gewesen sei, wer Tischreden gehalten habe und wie sie Tischordnung aussah. Ich habe mir schnell Papier und Feder geholt und alles wörtlich mitgeschrieben, was Mama mir hierüber zu erzählen wusste und halte es im Familienarchiv verwahrt.
 
Von Mama habe ich auch meine Kenntnisse über ihre Großeltern, meine Urgroßeltern, empfangen. Ich hätte gewiss von Großpapa auch vieles über sie erfahren können, wenn mein Interesse für die älteren Generationen in meinen jüngeren Jahren nicht noch geschlummert hätte. Trotzdem profitierte ich manches von dem, was Onkel Ettore und Papa aus an Ort und Stelle angestellten Forschungen über sie zu erzählen wussten.
 
Mein Urgroßvater Antonio Girardelli wurde im Jahre in dem Kirchdorf Valle St. Felice, nördlich des Gardasees, im Trentino Oberitaliens geboren.
 
Schon seine Eltern und Voreltern besaßen in "ununterbrochener Erbfolge", "seit undenklichen" Zeiten einen Bauernhof mit Äckern.
 
Mein Urgroßvater Antonio, der Jüngste von 7 oder 8 Geschwistern wanderte im achtzehnten Lebensjahre, also um 1800 nach Triest aus. Er besaß eine unbändige Unternehmungslust und Arbeitskraft und einen eisernen, unbeugsamen Willen, kaufmännisch voran zu kommen. Er nannte sich stets gern und mit Stolz "Bauernjunge". Unverbrauchtes, gesundes Blut strebte ehrgeizig nach besonderer Betätigung.
 
Mit geringen, ihm anfänglich zur Verfügung gestellten Mitteln und aus Ersparnissen aus seiner bald erlangten Vertrauensstellung in einer Spritfabrik beteiligte er sich bereits mit dreißig Jahren an diesem Unternehmen.
 
Darauf gründete er in Triest eine eigene Sprit- und auch darauf eine Teigwarenfabrik und kam bereits in seinen mittleren Jahren zu Wohlstand. Zwei eigene Schiffe von ihm befuhren das Mittelmeer, und sicherten ihm auch im Ausland einen großen Absatz seiner Waren. Einem seiner Geschäftsfreunde auf der Insel Zypern verdankten meine Eltern es noch in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, dass alljährlich um die Weihnachtszeit, und auch bei Großpapa Girardelli, ein Fässchen köstlich süßen Zypernweines eintraf.
 
Urgroßpapa Nono, wie er anstatt Antonio von den Seinigen genannt wurde, war von Gestalt mittelgroß und gedrungen. Er legte bi in sein höchstes Lebensalter größten Wert auf Anzug, Toilette und auf eine sehr gepflegte Küche. Grundsätzlich ging er mit Gehrock, Zylinderhut und Stock mit silbernem Griff spazieren. Er besaß einen eigenen Wagen und Pferde und fuhr darin alle Jahre einmal nach Karlsbad oder nach Baden bei Wien. Seine Gesundheit war eisenhart. Niemals hat ihn jemand bettlägerig oder wirklich krank gesehen. Von den Seinigen ist seine ständige Gewohnheit immer von neuem bestaunt worden, sich nach seinen Spaziergängen dadurch abzukühlen, dass er Fenster und Türen öffnete und sich bei ausgezogenem Überrock dahin setzte, wo die Zugluft am stärksten war. Dazu liebte er Rotwein zu trinken. Tabak aber soll er stets verschmäht haben.
 
Zur Feier seines achtzigsten Geburtstages schenkte es seinem Heimatdorf St. Felice eine Kapelle, die mit der Pfarrkirche " einen Körper bildet. Am Eingang zur Kapelle wie am Altar steht auch heute noch sein Namen als Stifter in Marmor eingemeißelt und darüber befindet sich das Familienwappen der Girardelli. Nach dem Bericht des dortigen Pfarrers ist es ein Adelswappen, was auch der Familientradition entspricht, dahingehend, dass die Vorfahren das Adelsprädikat besessen haben. Leider ist durch meine Forschungen genaueres hierüber nicht mehr festzustellen gewesen, weil im ersten Weltkrieg St. Felice im Frontbereich gelegen war und dadurch das Pfarrhaus und ein großer Teil der Häuser und mit ihnen die Kirchenbücher durch Feuer vernichtet worden sind. Aus diesen hatte aber Papa bereits im Jahre 1873 feststellen können, dass die Familie Girardelli bis im Jahr 1460 nachweisbar in St. Felice angesessen gewesen ist. Der jetzt dort amtierende Pfarrer Tranquillini hat mir mitgeteilt, dass die Girard
elli "seit urdenklichen Zeiten" in St. Felice gelebt haben, wie solches aus Grabinschriften zu ersehen sei.
 
Von meiner Urgroßmutter Abdreana, Giovanna Girardelli, geb. Toso, ist zu berichten, dass sie einer Kaufmannsfamilie entstammte, deren Mitglieder alle, wie sie selbst, sehr groß und schlank gewesen sind.
 
Da die Girardelli von Figur nur mittelgroß und untersetzt stet gewesen sind, so ist anzunehmen, dass die beiden Brüder von Mama ihre gesteigerte Größe von ihrer Großmutter Andreana als Erbgut erhalten hatten.
 
Ganz offensichtlich setzt sich bei dem einen der Brüder meiner Mutter, bei meinem Onkel Vittorio, die überdurchschnittliche Größe seiner Großmutter Andreana und nochmals bei zweien seiner Töchter durch, zumal deren Mutter klein, zierlich und schlank war.
 
Eine dieser Töchter gleicht aber in Aussehen und Figur auffallend unserem Helmut. Bei ihm ist seine blutsmässige Zugehörigkeit zur romanischen Rasse dominierend in die Erscheinung getreten. Wahrscheinlich wirkte auch bei ihm nochmals das Toso´sche Erbgut nach und setzte sich in einer gesteigerten Körpergröße nachmals durch.
 
Bei unserem Hans jedoch, der Helmut zwar noch überragt, und der rassisch von Kindheit an mit seinen goldblonden Locken und blauen Augen reinsten germanischen Typ zeigt, hat sich des Erbgut der Moritz-Eichborn durchgesetzt, also die überragende Größe seines Urgroßvaters Moritz-Eichborn.
 
Der Stammbaum der Familie Girardelli
Zusammenfassende und ergänzende Betrachtungen
 
In ungebrochener Kraft, auf eigenem Grund und Boden angesessen und mit ihm aufs engste verbunden, leben seit Jahrhunderten seit 1460 die Vorfahren meines Urgroßvaters Antonio Girardelli in St. Felice, im Trentino, nördlich des Garda-Sees.
 
Zur Feier seines 80. Geburtstages, im Jahre 1862, stiftete mein Urgroßvater , er lebte 1782 bis 1867, der Kirche seines Heimatdorfes den sie vergrößerten Anbau einer Kapelle.
 
Über dem Eingang zu dieser ist sein Namen und Wappen in Marmor gemeißelt und heute noch erhalten. Es ist ein Adelswappen, was auch der Familientradition entspricht, dass die Girardelli ursprünglich mit dem Adelsprädikat größeren Landbesitz gehabt haben sollen. In welchem Jahre der Adel abgelegt worden ist und welches die nähren Gründe hierfür waren, ist nicht bisher zu ermitteln gewesen. Durch die politischen Verhältnisse seit dem Jahr 1914 kamen die Forschungen wenig voran und bleiben einer späteren Zeit vorbehalten. Meine Kusine Lily Machlig, geb. Girardelli, Triest XI., Via Genova 14, ist zu jeder Mithilfe immer bereit.
 
Die Vitalität meines Urgroßvaters hat sich nicht allein nur in der Erreichung seines hohen Lebensalters von 85 Jahren gezeigt. Sein Schaffensdrang trieb ihn aus den für ihn zu eng gewordenen ländlichen Verhältnissen im Elternhaus schon in jungen Jahren hinaus. Den Beruf zum Kaufherrn in sich fühlend, kommt er bereits in mittleren Jahren durch eiserne Energie und Intelligenz zu großem Erfolg und Besitz.
 
Er heiratete Andreana Toso, die einer angesehenen Triestiner Kaufmannsfamilie entstammt.
 
Die 3 aus dieser Ehe hervorgegangenen Söhne, Carlo, Eugenio und Giuseppe (Joseph) werden gleichfalls Kaufherrn und Mitteilhaber des väterlichen Fabrikunternehmens.
 
Der tüchtigste von Ihnen ist der jüngste Sohn, mein Großvater Giuseppe Girardelli.
 
Er lässt sich seinen Anteil auszahlen und erbaut sich zwei neue Fabriken, je eine in Wien und die andere in Breslau etwa 10 Jahre später, der alten Handelsstrasse folgend, die die Adria mit der Ostsee verbindet.
 
Er heiratet Ida v. Socher, die dem Kärnthner Zweig der Familie v. Socher entstammt und deren Mitglieder als Erb- und Gerichtsherren in und bei Klagenfurt angesessen waren. Um 1700 siedeln ihre Voreltern erst nach Spittal an der Drau und darauf 1779 nach Trieste über, wo ihr Vater sich als Leiter eines großen Exporthauses kaufmännisch betätigt hat.
 
Aus dieser Ehe gehen eine Tochter Ida und 2 Söhne Ettore und Vittorio hervor.
 
Ida Girardelli heiratet 1867 meinen Vater Julius Sommerbrodt.
Ihr Bruder Ettore ist eine Künstlernatur, dagegen zeigt Vittorio eine erbbedingte, große kaufmännische Veranlagung.