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- TEIL II. Die Eltern und Geschwister meines Vaters und dessen Vorfahren.
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- Erzählt von
- Erhard Sommerbrodt
- Oberstleutnant a.D.
- geb. am 28.12.1867 in Breslau, gest. am 28.8.1956 in Wiesbaden
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- 1807 - 1872
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- Mit meinem Großvater Heinrich Sommerbrodt verbindet sich meine frühste Erinnerung überhaupt. Er war Ende Dezember das
Jahres 1871 von Schweidnitz nach Breslau herübergekommen, um an der Freude meiner Eltern über die Geburt ihres zweiten
Stammhalters teilzunehmen und um diesen seinen Enkelsohn Heinrich, unseren Heinz, kennen zu lernen.
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- Es ist mir seitdem immer plastisch deutlich geblieben, wie Großpapa mir an seiner auf meiner rechten Fingerspitze gestellten
Zigarrentasche versinnbildlicht hat, um welches Maß ich noch zu wachsen hätte, um die Türklinke erfassen und ohne fremde Hilfe
das Zimmer verlassen zu können.
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- Niemals mehr habe ich die ganze Situation für mich vergessen, wie ich an einer bestimmten Esszimmertür vor ihm gestanden habe.
Seine Figur, ja der Klang seiner Stimme, ist niemals mehr, bis heute, aus meinem Gedächtnis ausgelöscht worden. Ich habe
Großpapa nur das eine Mal gesehen.
- Vier Wochen darauf war er aus anscheinend bester Gesundheit heraus einem Schlaganfall erlegen.
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- Um meine persönlichen Eindruck herum sind dann die vielen Erzählungen über Großpapa seitens meiner Eltern oder durch
Großmama Sommerbrodt oder durch seine in Breslau lebenden beiden Brüder, meine Großonkel Otto und Julius, in allen weiteren
Lebensaltern von mir erstaunlich gut haften geblieben. Sein großes Bild über meines Vaters Schreibtisch belebten meine mir
vermittelten Eindrücke über ihn stets von neuem.
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- Alle Geschwister meines Großvaters besaßen wie er selbst als köstliches Erbteil ihrer Mutter Julie, geb. Treutler, jene echte und
wahre Herzensgüte, die jeden sogleich erreicht und die jeden erwärmt und beglückt. Nach Ansicht meiner Eltern war sie der
Schlüssel neben den sonst vorhanden gewesenen guten Charaktereigenschaften, neben Klugheit und Wissen zu den Erfolgen, die
Großpapa und seine Brüder gehabt und die sie glücklich werden ließen.
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- Großpapa Heinrich wurde am 1. April 1807 als zweitältester Sohn des Königlichen Hofrats Heinrich, Friedrich, Wilhelm
Sommerbrodt - Letochleb in Gross-Glogau a.d. Oder geboren.
- Nach bestandenem Abiturientenexamen studierte er in Leipzig anfänglich Chemie, darauf aber Pharmakologie, um den
Apothekerberuf zu ergreifen. Seine praktische Lehrzeit begann er in der Mohrenapotheke in Breslau am Markt. Die Wahl des
Ortes Breslau war dadurch gegeben, dass sein Vater inzwischen an das Oberlandesgericht Breslau versetzt worden war und die
beiden Brüder Otto und Julius dort verheiratet waren. Otto Sommerbrodt war Appellationsgerichts-Präsident, Julius
Sommerbrodt Geheimer Regierungs- und Provinzialschulrat.
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- Nach abgeschlossener Ausbildung im Jahre 1830 legte er in Berlin Anfang September j. Js. Seine Staatsprüfung mit dem Prädikat
"sehr gut" ab.
- Ein Jahr vor seiner Verheiratung mit Minna Luise Herzog, Tochter des verst. Gymnasialdirektors Herzog in Löbau i. Sa. Kaufte er
sich Mitte 1837 die Apotheke "Zum goldenen Adler" nebst zugehörigem großem Grundstück am Marktplatz in Schweidnitz.
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- Schweidnitz wurde ihm zur zweiten Heimat. Was ihm diese Stadt gewesen ist, welchen Einfluss er auf deren Entwickelung gehabt
und wie sehr sie es ihm gedankt hat, spiegeln die vielfachen Ehrungen wieder, die ihm zuteil geworden sind.
- Er gehörte dem Vorstand des evangelischen Kirchekollegiums, den Gymnasial- und des Gewerbeschulkollegiums an und war
zweimal in den Provinziallandtag gewählt worden.
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- Als im Revolutionsjahr 1848 auch in Schweidnitz sich die Wogen zu überschlagen drohten, hatte Großpapa die erregte
Bürgerschaft durch sein persönliches Erscheinen noch im letzten Augenblick zur Besonnenheit und zum Zurückweichen
veranlassen gewusst. Als der dritte Trommelwirbel und die letzte Aufforderung der militärischen Gewalt an die Bürgerschaft
bereits vergeblich verklungen war, also unmittelbar vor dem Kommando zur Feuergabe, sprang Großpapa vor und vermochte
durch die Autorität seiner Persönlichkeit, mit weithin schallender Stimme, die sonst unvermeidlich gewesenen Blutopfer zu
verhüten. Erst auf sein Erscheinen wichen die erregten Demonstranten zurück.
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- Politisch bekannte sich Großpapa zum Geist und zu den Zielen der in der Paulskirche in Frankfurt/M. zusammengekommenen
Männer und zu deren Idealen.
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- Am Tage seines fünfundzwanzigjährigen Jubiläums als Stadtverordneten-Vorsteher, am 14. Juli 1867, ehrten ihn seine Mitbürger
durch Errichtung einer Heinrich Sommerbrodt-Stiftung aus deren Zinsen "immerwährend und alljährlich" zwei der Gabe würdige
Mitbürger je einen Betrag erhalten sollten. Ferner ließ die Stadt ein Ölbild von ihm anfertigen, bestimmt dazu, im großen Saal des
Rathauses, in dem alle Sitzungen stattfanden, seinen Platz zu finden.
- Dort ziert es auch heute noch den Raum. Auf dem Rahmen befindet sich eine Bronzetafel mit folgender Inschrift:
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- Heinrich Sommerbrodt
- Apothekenbesitzer; mehr als 30 Jahre
- Stadtverordneten Vorsteher; Mitglied
- Des Provinziallandtages; Mitglied des
- Evangelischen Kirchenkollegiums,
- geb. 1. April 1807 - gest. 30. Januar 1872
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- Ferner erhielt Großpapa an seinem Jubiläumstage zum persönlichen Gebrauch "aus Verehrung und Dankbarkeit" vom Magistrat
und Stadtverordneten Kollegium ein silbernes Schreibzeug, nach dem Bedarf der damaligen Zeit ausgestattet mit Tinten- und
Streusandfass und Klingel. Es steht auf einem silbernen Tablett mit Widmung und Stadtwappen.
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- Aus Anlass des Ordensfestes, am 18. Januar 1868, bekam Großpapa den Roten Adlerorden IV. Klasse vom König von Preußen
verliehen.
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- Großpapa starb plötzlich und unerwartet aus scheinbar nach bester Gesundheit mitten aus rüstigstem Wirken in seinem 64.
Lebensjahre. Als er nach einer Sitzung, die er geleitet hatte, mit anschließendem Herrenessen in sein Haus zurückgekehrt war und
die ersten Stufen der zu seiner Wohnung hinaufführenden Treppe erreicht hatte, erlag er einem sofort tödlichem Herzschlage.
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- Großmama hatte ihn, wie stets, trotz später Abendstunde erwartet, hatte ihn die Haustür öffnen und auch noch abschließen gehört.
Als er dann nach einer Weile aber oben nicht eintraf, ging sie mit einer Kerze ihm entgegen, noch immer ohne Beunruhigung oder
ohne böse Vorahnung.
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- Umso schrecklicher war für sie das unvermittelte Erkennen von dem, was geschehen war.
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- Die Erregung und Mittrauer war in der ganzen Stadt ungeheuer groß. Sein Verlust war für alle unersetzlich, für immer für seine
Familie und für eine sehr lange Zeit auch für die Stadt, deren Ehrenbürger er hat werden sollen.
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- Das Schweidnitzer Amtsblatt widmete ihm in Nr. 10 vom 7.2.1872 nachstehend im Auszug wiedergegebenen Nekrolog:
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- "Am 17. Juni 1838 bereits wurde H.S. durch das Vertrauen seiner Mitbürger, das er sich schon im ersten Jahre seiner
Abwesenheit in Schweidnitz in hohem Grade zu erwerben wusste, zum Stadtverordneten gewählt.
- Durch seine Berufstreue im Amt, durch die Tüchtigkeit seiner Gesinnung, steigerte sich das Vertrauen seiner Kollegen bis dahin,
dass er von denselben am 14. Juli 1842 zum Vorsteher der Stadtverordneten gewählt und stets bis zum Ende seines Lebens,
mithin am 11. Januar 1872 zum dreißigsten Male als solcher wiedergewählt worden ist."
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- Nach diesem Wendepunkt ihres Lebens siedelte Großmama Ende des Jahres 1872 nach vorherigem Verkauf der Apotheke und
des Grundstückes nach Breslau über. Dort wohnten wir und ihre beide Schwager, Otto und Julius. Sie zog von Anbeginn an in
unser Haus. Meine Eltern erzeigten ihr alle Liebe, um ihr ihre Vereinsamung und den jähen Wechsel vergessen zu machen und ihre
beiden Töchter, Elisabeth und Johanna besuchten sie öfters in den ersten Jahren von Recklingshausen aus oder von Cordeshagen
i. Pommern, falls sie den Sommer nicht bei ihnen verbracht hatte. Etwa im Jahr 1885 siedelte Tante Elisabeth nach erfolgter
Pensionierung ihres Mannes, meines Onkels Ernst v. der Hardt, Oberst z. D., nach Breslau über. Großmama Minna war eine der
vielen trefflichen selbstlosen Frauen der Sommerbrodt, die sich ganz in den Dienst der Familie gestellt, ihren Männern und
Kindern beste, liebevolle Kameradinnen waren und für als selbstverständlichen Dank niemals aufhörende Liebe empfingen.
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- Die 34 Jahre währende Ehe meiner Großeltern ist überaus glücklich gewesen; sie war am 17. Mai 1838 geschlossen worden.
Großmama ist die schon mit vier Jahren verwaiste Tochter des am 27.4.1825 verstorbenen Direktors des Gymnasiums in Löbau
in Sachsen und seiner am 19.11.1826 verstorbenen Ehefrau Luise geborene Lucas.
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- Nach dem so frühen Tod ihrer Eltern nahm die Schwester der Mutter Großmama zu sich, die in Zittau in Sachsen an den reichen
Kaufmann, Seiden- und Kämmel verheiratet war.
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- Mit inniger Liebe hat Großmama während ihres ganzen, langen, 88 Jahre währenden Lebens an ihren Pflegeeltern gehangen. Nichts
gab es, was Onkel Kämmel nicht auch damals schon besessen hätte, nichts, tatsächlich nichts, was schöner und besser gewesen
wäre, als einst bei Onkel Kämmel. Bei jeder nur möglichen Gelegenheit wurde er, der Onkel Kämmel, erwähnt. Der reiche Haushalt
in eigener Villa, 2 Wagen mit "edlen Pferden", die zahlreichen Reisen mit Kämmels hatten einen unauslöschlichen Eindruck auf
das jugendliche, empfängliche Gemüt unserer Großmutter für immer ausgeübt. Die weitere, größere Welt, die sie zu sehen
bekommen hatte, ließ ihre geistigen Anlagen zur vollen Entwickelung gelangen. Sie trug sie als Erbe einer langen Reihe
bedeutender Vorfahren in sich. Sie war stolz, von ihnen erzählen und sie in lückenloser Folge bis zum Jahre 1588 nennen zu
können. Durch vier Pastoren-Generationen führt sie bis zum "vornehmen Rathsverwandten" der Stadt Naumburg hinauf.
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- Bei ihrer Verheiratung war Großmama zwanzig Jahre alt. Die Trauung fand in Kleinschönau bei Zittau in Sachsen in derselben
Kirche statt, in der 24 Jahre vorher ihre Eltern getraut worden waren. Ein Teil ihrer Ausstattung stammt von ihren Pflegeeltern, so
auch das inzwischen auf Dorothee nach Stuttgart gekommene Biedermeierzimmer.
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- Als die Frau des im Stadtparlament in Schweidnitz zweithöchsten Mannes hat Großmama ihre Stellung sicherlich sehr gut
auszufüllen verstanden. Sie ist dort und auch später bis in ihr hohes Alter immer als eine kluge, für alles interessierte, feinsinnige,
lebensbejahende Frau anerkannt worden.
- Bei den Zusammenkünften mit anderen schöngeistigen Frauen las man neben den Klassikern auch selbstverfasste Gedichte und
führte kleine Theaterstücke auf, in denen Zeit und Personen schelmisch getroffen waren. Man lebte in der Biedermeierzeit.
Großmama war dichterisch veranlagt und hat dieses Können sowohl auf meinen Vater wie auf ihre Tochter Elisabeth
weitervererbt. Mein Vater gab die dichterische Veranlagung auf mich weiter und ich wiederum auf unseren Erhard.
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- Allzu blaustrümpfig wird aber Großmama nicht gewesen sein. Ihre Koch-, Brat- und Backkünste waren überaus geschätzt und
ebenso begehrt wie ihre guten sächsischen Rezepte für Kulinarische Genüsse aller Art. Um ihre Sahnetorten und
Bittere-Mandel-Bretzeln rankte sich der Mythos der Unübertreffbarkeit genauso wie um die Knusprigkeit ihrer Gänsebraten.
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- Die Großeltern waren auf ihre drei Kinder sehr stolz. Papa war mühelos als Primus durch das Gymnasium gegangen, hatte so
schnell und so gut wie überhaupt möglich seine medicinische Studien in Breslau, Würzburg und Greifswald absolviert und war als
flotter Burschenschafter bei den Raczeks, der Ur-Burschenschaft, mit einer beschränkten Eulage ausgekommen.
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- Die beiden Schwestern von Papa verkörperten alle guten weiblichen Eigenschaften, waren tatsächlich bildschön und sind von dem
Schlesischen Dichter Holtey als schönste Mädchen Schlesiens besungen worden. Tante Elisabeth wurde die Frau des in
Schweidnitz in Garnison stehenden, damaligen Hauptmanns Erbst v. der Hardt. Tanze Johanna heiratete den Rittergutsbesitzer
Otto Senglier nach Cordeshagen bei Cöslin in Pommern, den sie bei seiner in Breslau lebenden Mutter Hulda, geb. Barneckow
kennen gelernt hatte.
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- Durch die Verlobung meiner Eltern traten zwei von einander grundverschiedene Welten miteinander in Berührung und verbinden,
die sich aber von Anfang an nicht nur gefallen, sondern auch verstanden haben. Die Großeltern standen ganz im Bann und Zauber
der südländisch ungehemmt gegebenen Liebenswürdigkeit und Offenherzigkeit der großzügig denkenden und handelnden
Gegenschwiegereltern, während diese wiederum ehrlichst das ihnen bis dahin unbekannt gebliebene deutsche Honoratioren- und
beste Hausfrauentum bewunderten. Die hübsche Mittelstadt Schweidnitz hatte dabei eine besondere Note. So ist ihnen ihr erstes
und einmalig gebliebenes Erlebnis im Schweidnitzer, städtischen Recourcengarten unvergessen geblieben, den man nach dem
festlichen Verlobungsessen am Nachmittag aufgesucht hatte. Um den Einzug der beiderseitigen Eltern und deren Kinder und des
jungen Brautpaares besser sehen zu können, bildeten die sehr interessierten Bürger und Bürgerinnen nicht nur ein mehrreihiges
Spalier, sondern hatte sogar Tische und Stühle bestiegen, um besser sehen zu können, was unter begeistertem Schwenken von
Taschentüchern und einigen Hochrufen ausgiebig vor sich ging. Mama und ihre Eltern hatten bisher eine solche Beachtung ihrer
Persönlichkeit weder in Triest noch in Wien noch in Breslau kennen gelernt.
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- Obgleich wir mit Großmama oft zusammenkamen, fühlten ich und Heinz, dass wir in unseren jüngeren Jahren ihr nicht so nahe
standen wie die anderen Enkelkinder.
- Es mag das wohl dadurch gekommen sein, dass wir vor ihrer Klugheit einen zu großen Respekt hatten, oder dass uns ihre
Erzählungen über Schweidnitz und seine Geschichte zunächst nicht allzu sehr interessierten, oder dass sie uns zu eingehend nach
unseren Schularbeiten und Klassenresultaten befragte. Wir sahen in ihr wohl die gütige Mutter unseres Vaters, waren uns aber
einig, dass es unten im Parterre bei Großpapa ungleich gemütlicher war.
- Später änderte sich natürlich unsere Einstellung zu ihr vollkommen, was aber nicht hinderte, dass mir mein erster Theaterbesuch in
Verbindung mit Großmama in nicht vollkommen ungeteilter Freude immer in Erinnerung geblieben ist.
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- Es war "Der Freischütz", den mich meine Eltern als erste Oper sehen ließen. Die Vorfreude und Spannung hierauf beeinflusste
mich schon Tage vorher. Die Ouvertüre und einige der schönsten Lieder kannte ich durch das häufige, abendliche Klavierspiel
von Papa längst bestens und wusste über den Inhalt der Oper Bescheid. Dafür hatte Mama gesorgt. In feierlicher Stimmung
fuhren wir, die Eltern, Großmama und ich in unserer "Leibdroschke" ins nahe Stadttheater. Einige peinliche Fragen von
Großmama an mich gestellt, zeigten ihr aber, dass mir die letzten Finessen des Textbuches doch nicht vollkommen erschlossen
waren. Die etwas spitzige Instruktion traf ebenso mich auch die Eltern und einigermaßen verstimmt betraten wir unsere Loge.
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- In welchem Lebensalter von mir diese "Operneinführung" stattgefunden hatte, weiß ich nicht mehr mit Sicherheit anzugeben:
vielleicht war ich 10 oder 11 oder 12 Jahre alt. Doch war es noch in der "guten, alten Zeit" in Breslau, als die Straßenbahn von
Pferden gezogen, eingleisig langsam bis zur nächsten Ausweichstelle klingelte und die Leierkastenmänner allwöchentlich an drei
Abenden zwei Stunden lang immer dieselben Stücke ihrer Walze in viel zu langsamen Tempo drehten und als die
Laternenanzünder erst auf der rechten, dann auf der anderen Straßenseite die Petroleumlampen mit Hilfe ihrer Leiter und eines am
Hosenboden entzündeten Phosphor-Schwefel-Zündholzes aufflammen ließen und als nur in den Hauptstrassen dreizackige
Gasbrenner bläulich leuchteten, als es noch keine Kanalisation in jedem Hause gab und die monatlichen Ausräumungen der
Gruben in den Höfen von 10 Uhr abends an zum Himmel stanken und als gerade der Phonograph, der Vorläufer des
Grammophons, in Sondervorführungen am Nachmittag von uns Schuljungens bestaunt, handgekurbelt nur immer die wenigen
Worte scharren konnte, dass er aus Amerika-a-a-a-a-a gekommen sei, und als wir die Schularbeiten unter der
Petroleum-Hängelampe anfertigen und wir uns ein großes Lob verdienen konnten, wenn wir nicht am Docht geschraubt hatten und
somit die Luft klar und Gardinen, Nase und alle Möbelstücke von einer dicken schwarzen Rußschicht verschont geblieben waren,
und als die Dienstmädchen die alten Damen noch mit "Madame" anreden mussten und als wir bei 25 Grad Kälte, geschützt durch
russische Baschlikmützen, die heruntergeklappt vom Gesicht nur einen kleinen Augenschlitz freiließen, noch bei Dunkelheit früh in
die Schule eilten.
- Das alles liegt erst etwa 64 Jahre zurück und ich entsinne mich an alles noch zo sehr deutlich und genau.
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- Nach dem vorzeitigen Tod von Papa am 14. August 1893 wurde unser aller Verhältnis zu Großmama ein sehr herzliches.
Besonders zwischen ihr und meinem Bruder Walter.
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- Die gemeinsame Trauer führten Mama mit Walter oft zu Großmama hin. Walter, den die ersten schweren, zu tiefst empfundenen
Ereignisse krank gemacht hatten, musste etwas abgelenkt werden, was allmählich auch dadurch gelang, dass Großmama sein
Interesse für die Sommerbrodt´sche und ihre Herzog´sche Familienchronik zu wecken verstand. Sie zeigte ihm die von ihr treu
verwarten Dokumente und Bilder aus der langen Reihe ihrer und unserer Ahnen und erzählte von deren Verdienste in stets
gehobenen Stellungen und was sie selbst festgestellt und aufgezeichnet hatte oder was sie aus der Tradition wusste.
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- Obgleich Walter damals erst dreizehn Jahre alt war, fielen ihre Worte auf einen sehr guten Boden und gingen in ihm auf und
brachten uns durch seine Familienforschungen den ganz großen Gewinn in späteren Jahren.
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- Während ich und Heinz durch unseren Beruf bereits, durch unsere Tätigkeit in strengen Truppendienst der ersten Jahre, ganz auf
eine sehr vitale Gegenwart eingestellt waren und das Zusammensein mit den Kameraden, Rekruten und Pferden uns keine Zeit gab,
privaten Interessen nachzugehen, konnten in der Stille des Breslauer Trauerhauses, und fast unter liebevollem weiblichen Einfluss
stehend, die guten Anlagen Walters idealeren Dingen zugeführt und für diese interessiert werden. Schließlich hat Walter in seiner
Referendarzeit die czechieche Sprache erlernt, um an Ort und Stelle, in Prag und Chrudim in Böhmen, Forschungen über unsere
Vorfahren Litochleb anstellen zu können. Allein seinem Verdienst ist es zuzuschreiben, dass wir nicht nur den Stammbaum der
Sommerbrodt-Litochleb in aufsteigender, direkter Linie bis 1534 besitzen, sondern auch den Stammbaum der gleichzeitig mit uns
1732 aus Böhmen ausgewanderten Berliner Vetternlinie.
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- Die Freude an diesem seinem Wirken und Schaffen hat Walter niemals mehr verlassen. Erst durch den ersten Weltkrieg und dann
durch seine schwere Nierenerkrankung ist er an weiteren Nachforschungen gehindert worden. Er wusste es und hat es auch
ausgesprochen, dass ihm, dem erst dreiundvierzigjährigen, wie im "Totentanz" von Holbein, der Tod den Schreibgriffel vorzeitig
aus der Hand nehmen würde. Sein Vorhaben, das Wirken der Litochleb auch um die Zeit von 1416 zu schildern. In der einer
unserer Vorfahren Bürgermeister von Prag ist, den Vorsitz des "Gerichtes der sechs Herren" führt und als einer der vier
bedeutendsten Vertreter der Revolution in Prag um Huss entscheidenden Einfluss auf die ganze Bewegung nimmt. Dieses sein
Vorhaben sollte nicht mehr zur Ausführung kommen.
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- Es sei über Großmama Sommerbrodt noch nachgetragen, dass sie einen einzigen, um drei Jahre älteren Bruder, Ernst, besessen
hat.
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- Nach dem so frühen Tod der Eltern übernahm eine den Kämmels in Zittau eng befreundete Familie die Pflege und Erziehung von
Ernst Herzog. Er kam in die kaufmännische Lehre und brachte es zu der geachteten Stellung eines Prokuristen, hat es aber niemals
in seinem Leben verschmerzen können, dass er wegen fehlender Mittel nicht hat Theologie studieren können. Hierzu hatte er sich,
wie so viele der Vorfahren von ihm, aus innerster Einstellung berufen gefühlt.
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- Großmama Minna haben wir niemals krank gesehen. Bis in ihr hohes Alter hinein nahm sie an allen Tagesereignissen sehr regen
Anteil. In immer zunehmendem Masse setzte sich ihre Güte durch und ihr Interesse an der jungen und jüngsten Generation nach
ihr, der sie Urgroßmutter geworden war.
- Sie lebte zwar mit Vorliebe der Vergangenheit und korrespondierte auch zuletzt noch in kalligraphisch schönen Schriftzügen mit
den Ihrigen und den wenigen ihr noch übriggebliebenen Freundinnen, hatte aber doch auch noch ein so reges Interesse an der
Gegenwart, dass sie an schönen Tagen von ihrem Fenster aus durch ihr Opernglas die Menschen und Vorgänge auf der Neuen
Taschenstrasse stundenlang beobachten konnte.
- Großmama war immer eine sehr schöne Frau gewesen und war es auch bis in ihr höchstes Alter geblieben. Sie glaubt in tiefster
Überzeugung daran, dass durch den Tod sie mit ihrem über alles geliebten Mann wieder vereint sein wird.
- In ihrem achtundachtzigstem Lebensjahre ist sie am 26.6.1906 sanft entschlafen. Sie wurde, wie sie es gewünscht, nach
Schweidnitz überführt. Auf dem Kirchhof der Friedenskirche, unweit des Haupteinganges, hat sie neben Großpapa ihre letzte
Ruhestätte gefunden.
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- Ahnenfolge der Herzog
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- Johann Herzog
- Vornehmer Ratsverwandter und Kammerschreiber in Naumburg a. Saale,
- vermählt mit Maria Weise, Tochter des Bürgermeisters Weise in Naumburg, 1588.
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- Magister Johann Herzog
- geb. 18. Januar 1615 - gest. 23. Februar 1657
- Archidiakonus an der Kreuzkirche in Dresden.
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- Magister Johann-Ernst Herzog
- geb. 24. Dezember 1654 - gest. 27. Oktober 1715
- Pastor primarius in Zittau i. Sachsen.
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- Magister Friedrich Gottlob Herzog
- Geb. 27. Oktober 1689 - gest. 1751
- Archidiakonus in Zittau i. Sachsen.
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- Magister Christian August Herzog
- Geb. 31 Dezember 1737 - gest. 15. August 1803
- Pastor in Ebersbach bei Zittau i. Sachsen.
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- Magister Christian August Herzog
- Geb. 31. Dezember 1778 - gest. 27. April 1825
- Direktor des Gymnasiums in Löbau i. Sachsen.
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- Minna Luise Herzog
- Geb. 20. März 1818 - gest. 26. Juni 1906
- Vermählt mit Heinrich Ferdinand Sommerbrodt
- Apothekenbesitzer in Schweidnitz,
- mehr als 30 Jahre Stadtverordneten Vorsteher,
- Mitglied des Provinziallandtages,
- geb. 1. April 1807 - gest. 30. Januar 1872.
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- Dr. med. Julius Sommerbrodt
- Geb. 28. Februar 1839 - gest. 14. August 1893
- Professor an der Universität Breslau,
- vermählt mit Ida Girardelli aus triest i. Italien.
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- Erhard Sommerbrodt
- Geb. 28. Dezember 1867 - gest.
- Regimentskommandeur im ersten Weltkrieg,
- Oberstleutnant a.D.,
- vermählt mit Marie Agath aus Breslau
- geb. 28. April 1883 - gest. 10. Mai 1945
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- Dorothee
- Geb. 11. Februar 1903
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- Hans
- Geb. 14. Februar 1904
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- Helmut
- Geb. 18. Dezember 1911
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- Erhard
- Geb. 18. Dezember 1910
- Vermählt mit Ilse van Wietersheim
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- Achim
- Geb. 3. August 1942
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- Erhard
- Geb. 23. September 1943
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- Agahte
- Geb. 12. Dezember 1947
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- Die Geschwister meines Großvaters Heinrich Sommerbrodt
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- Die vier Geschwister meines Großvaters waren alle, wie auch er, in Glogau a. Oder geboren.
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- Ich habe nur seinen ältesten Bruder Otto und seinen jüngsten Bruder Julius kennen gelernt, die beide in Breslau lebten. Sein Bruder
Louis und seine einzige Schwester Pauline waren nach Berlin übergesiedelt und dort verheiratet.
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- Zunächst war nach Großpapas Tod Großonkel Otto unser Familienoberhaupt. Nach seinem im Mai 1879 erfolgten Tode wurde es
Großonkel Julius. In ihm aber erkannten wir nicht allein nur das hochverehrte Oberhaupt, sondern alsbald den überaus geliebten
Stellvertreter unseres zu früh abberufenen Großvaters, der ihn um volle einunddreißig Jahre überlebt hat.
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- Während Großonkel Otto nur immer die vollendetste, reinste Güte selbst gewesen war, war dieses zwar Großonkel Julius auch in
gleicher Weise. Hinzu kam aber bei ihm der Zauber seiner Ehrfurcht gebietenden Persönlichkeit und das beglückende Empfinden,
bei ihm nicht nur sicher geborgen zu sein, sondern liebevoll geführt zu werden und an dem Quell seiner Weisheit und
Lebenserfahrungen zu eigenem Nutzen teilnehmen zu können.
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- Es ist zu unterscheiden, was Großonkel Julius mir in jüngeren Jahren und was er mir gewesen ist, nachdem ich ins Leben getreten
war.
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- Als Schüler hatten ich und Heinz Hemmungen in seiner Gegenwart. Wir sahen in ihm vornehmlich den hochgestellten Lehrer, den
Provinzialschulrat, der unser nicht immer einwandfreies Wissen und Können durchschauen könnte. Wir merkten es ja auch an
dem beinahe respektvollen Verhalten, besonders der jüngeren Lehrer uns gegenüber, welche besondere Hochachtung ihm
gebühre. Ohne unsere Hemmungen hätten wir auch damals schon viel zärtlicher und aufgeschlossener zu ihm sein müssen; denn
gütiger zu uns und interessierter um uns hätte der eigene Großvater nicht sein können. Er wollte uns von Anfang an Freund und
Kamerad sein. Und das erkannten wir in jüngeren Jahren nicht vollkommen genug.
- Bald aber werden meine Besuche bei ihm und unsere Zusammenkünfte zu meinen liebsten Erinnerungen. Auf manchen, der Schule
ferner liegenden Gebieten hatten wir uns ja schon immer gefunden gehabt. So habe ich oft den Zoologischen Garten in der
Hoffnung aufgesucht, Großonkel Julius dort anzutreffen. Er besuchte ihn sehr oft. Aus seinen Beobachtungen und Kenntnissen
über alle Tiere konnte meine Tierliebe stets Gewinn haben. Obgleich er Musik nicht selbst ausgeübt hat, hörte er sie, besonders
Beethoven, sehr gern. Manche Sätze seiner Sonaten, vornehmlich die Adagios und die Variationen, habe ich schon während des
Übens ihm dargebracht, weil ich wusste und es gesagt bekam, dass die tiefsten Stellen auch sein Gemüt am tiefsten bewegten.
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- Er war immer, und in jedem Fall immer, der wirklich Gebende, obgleich man in seiner Gegenwart glaubte, ihm selbst bei dem
hinreißenden Schwung seiner Beredsamkeit in der Entgegnung auch etwas gegeben zu haben. Selbst auf militärischem Gebiet
wusste er Bescheid und selbst hier wurde ich der Empfangende, wenn er militärische Fragen mit politischen verband. Mir ging es
genau so wie allen den Menschen, auf die der Strahl seiner Sonne fiel. In seiner Gegenwart fühlte man, geistige Flügel erhalten zu
haben.
- Und wie groß war bis in sein höchstes Alter hinein seine Lebensfreude und Lebenskraft! "Raste ich - so roste ich" und: "Des
Geistes Frucht ist Freude", das waren seine beiden Wahlsprüche immer gewesen. Nach bis zum 85. Lebensjahr unternahm er -
ohne Begleitung - meist sechswöchige Reisen nach Rom, Florenz, Modena, Venedig, um an Ort und Stelle Quellenstudium für
seine bis zuletzt immer in neuen Auflagen herausgekommenen Werke über seine Lieblingsschriftsteller Lucian und über das
"altgriechische Theater" zu machen.
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- Bis zu seinem 84. Lebensjahr nach gehörte er der Wissenschaftlichen Prüfungskommission als deren Direktor an und bis zu
seinem 72. Lebensjahre war er der amtierende Schulrat und Geheime Regierungsrat für die Provinz Schlesien.
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- Hohe Ordensauszeichnungen waren ihm verliehen worden, so der Kronen Orden II. Klasse und der Hausorden von Hohenzollern,
beides Halsorden.
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- Bei seinem Scheiden erhielt Großonkel Julius als sichtbares Zeichen der Verehrung und des Dankes vom gesamten
Lehrerkollegium an den staatlichen Gymnasien Schlesiens Tafelsilber für 18 Personen, das, weil seine Familie erloschen ist, auf
unseren Stamm gekommen ist und das einmal unserem Helmut gehören wird.
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- Das reich gesegnete Leben von Großonkel Julius ging in seinem neunzigsten Jahre, friedvoll ausklingend, zu Ende. Ohne Krankheit
erwartete er gläubigen Herzens seine irdische Vollendung, bis zuletzt hingebend gepflegt und betreut von seiner einzigen Tochter
Erdmuthe während seiner langen, zweiundzwanzig Jahre verbrachten Zeit als Witwer.
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- Als Grabmal hatte er sich ein aufrechtstehendes Kreuz aus weißem Marmor gewünscht neben dem gleichen Kreuz seiner über alles
geliebten Frau mit der Inschrift seines Wahlspruches: "Des Geistes Frucht ist die Freude.". Über diesen Bibelspruch hielt auch
der Geistliche im Trauerhaus, Klosterstrasse 12, die Trauerrede. Onkel Julius hatte, wie auch sein Vater, der Reformierten Kirche
angehört.
- An einem kalten, sonnigen Wintertage, am 9. Januar 1903 betteten wir ihn zur letzten Ruhe.
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- Einen sehr schönen Ausdruck für das, was Großonkel Julius seinen Standesgenossen und allen, die ihm beruflich nähertreten
durften, gewesen war, hat Geheimrat Förster, der Dekan der Breslauer Universität, in seinem Nekrolog auf ihn gefunden, den er im
Jahresbericht für Altertumswissenschaft, Breslau, Band 141, 1904 hat abdrucken lassen, nachdem er zum ersten Male ein Jahr
nach Großonkel Julius Tode ihn in der Schlesischen Zeitung hatte erscheinen lassen.
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- Ferner erschien im Jahre 1926 im Furche-Verlag, Berlin, unter dem Titel: "Erinnerungen eines alten Professors an namhafte Zeit-
und Lebensgenossen, von Siegfried Göbel", ein aufschlussreicher, sehr interessanter Abriss über das Wirken und Leben von
Julius Sommerbrodt.
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- Die Trauerrede des Geistlichen der reform. Gemeinde wie der Nekrolog des Geheimrats Förster befinden sich, wie so viele andere
wertvolle Sachen, im Familienarchiv.
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- 1820 - 1881
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- Die Lebensgefährtin von Großonkel Julius, Marie, entstammte der damals durch ihre Schriften bekannten und geschätzten
Philologenfamilie der Passow. Sie war ihrem Manne geistig gleichwertig und zudem zeichnerisch sehr talentiert. Ihre Schwester
war an den Oberlandesgerichtspräsidenten in Mann in Westfalen, den späteren Preußischen Kulturminister Dr. v. Falk verheiratet.
- Aus der Ehe von Großonkel Julius waren vier Kinder hervorgegangen, Erdmuthe, Gottwald, Max und Ernst.
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- Max Sommerbrodt war als Oberstabarzt in seinem 50. Lebensjahr in Berlin, unverheiratet, gestorben. Während seiner militärischen
Laufbahn stets im Preußischen Gardekorps belassen, war ihm nach Beendigung des Deutsch-Französischen Krieges vom
Kriegsministerium aufgetragen worden, für dieses den als Anhang für das Generalstabswerk bestimmten Bericht zu Verfassen:
"Über die vorgekommenen Verwundungen und die Ausfälle an Seuchen und an anderen Krankheiten während des Feldzuges
1870/71.". Noch einen weiteren ehrenvollen Auftrag hatte er 1888 vom Preußischen Staate erhalten. Als in Südrussland in
bedrohlicher Form die Pest aufgetreten war, war er als Leiter der staatlich dorthin zur Erforschung der Seuche entsandten
Kommission bestimmt worden und neun Monate dort tätig gewesen.
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- Ernst Sommerbrodt war Philologe, wie sein Vater. Er war erst Lehrer in Hannover, wo er seine Frau Lilli, geb. Wendte,
kennengelernt, und dann Direktor des kgl. Gymnasiums in Lauben in Schlesien. An beiden Wirkungsstätten war er sehr geschätzt
und beliebt. Als sichtbarer Beweis hierfür ist auch der Roman zu bewerten, den einer seiner Schüler, der später als Schriftsteller
mehrfach hervorgetretene, Oberlandesgerichtspräsident Rudorff unter dem Titel hat erscheinen lassen: "der Untersuchungsrichter
und der Prozess der Lotte Grell.", im Verlage von Carl Reissner, Dresden.
- Auf meine Anfrage beim Verfasser, was ihn bewogen habe, in seinem Roman eine der Persönlichkeiten unter dem Namen
Sommerbrodt auftreten zu lassen, antwortete er mir, dass er seinem hochwertigen, von ihm hochverehrten, einstigen Lehrer auf
dem Kaiser Wilhelm Gymnasium in Hannover habe ein Denkmal setzen wollen.
- Ernst Sommerbrodt hatte das geistige Erbe seiner Eltern gut verwaltet. Seine Frohnatur hatte er von beiden Seiten, vielleicht aber
mehr noch vom Erbgut der Mutter.
- Ihr Vater hatte im Jahre 1807 eine köstliche, freie Übersetzung der, stets nebenan im Original abgedruckten, Dichtungen: "Küsse",
des römischen, galanten Schriftstellers Jucundus im Buchhandel erscheinen lassen. Der alte Dichterschelm und sein Übersetzer
haben an Lebensbejahung und Freude am Leben nichts zu wünschen übrig gelassen. Wer aber, wie Passow, an solchem Stoff
solches Behagen hatte und ihn so überquellend mitempfindend und doch so zart zu übertragen und vorzutragen verstand, der
muss Liebling von Jedermann, vornehmlich aber der Jugend gewesen sein, ein Jugendlehrer, wie wir ihn uns alle in unserer Jugend
auch gewünscht, aber so selten nur gehabt haben.
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- Die Dichtung "Küsse" befindet sich in der Bücherei des Familienarchivs.
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- Nicht minder verehrt, als es Großonkel Julius von uns allen gewesen, war der gleichfalls in Breslau lebende älteste Bruder meines
Großvaters, Großonkel Otto Sommerbrodt.
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- Da er nur vierzehn Häuser von uns entfernt wohnte, auf unserer Neuen Taschenstrasse 21, sahen wir ihn und Großtante Luise sehr
oft, entweder zur Vesper bei den sonntäglichen Familientreffen bei meinen Eltern oder fast täglich auf der unseren Fenstern
gegenüberliegenden Straßenseite, wenn er um die Mittagszeit vom Amt nach Hause kam, vom Appellationsgericht, dessen
Präsident er war.
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- Ein nicht endenwollendes gegenseitiges Winken erfreute beide Teile. Obgleich seine Ehe kinderlos geblieben war, war er
außerordentlich kinderlieb. Seine Güte und Liebe zu uns war mehr empfangender Art für ihn, während Großonkel Julius auf
gleicher Grundlage stehendes Interesse zu uns mehr gebender für ihn gewesen ist. Als Kinder ritten wir auf seinen Knien und als
Jungen wünschten wir uns von ihm Obst und Südfrüchte oder mit ihm den Besuch von Jahrmarktsbuden oder der häufig
Gastrollen gebenden Affen- und Hundetheater und Abnormitätenkabinetts. Zu allen diesen Veranstaltungen war jedes Mal auch
Mama eingeladen, die sich zusammen mit uns, oder wahrscheinlich über uns, herzlichst amüsierte, wie das auch der gute Onkel
tat. In etwas älteren Jahren von uns Jungen war er unser dankbarster Zuschauer, wenn wir ihm selbstverfasste "Theaterstücke"
aufführten. Die Wolfsschlucht, Hölle, Tod und Teufel erschienen dabei inmitten selbstgefertigter Kulissen bei roter und grüner
bengalischer Beleuchtung.
- Die Schlussapotheose bestand dann regelmäßig darin, dass Heinz und ich als Räuber oder Teufel, "geschminkt" mit
angebranntem Korkpfropfen, durch Sprung durch einen mit rotem Florpapier bespannten Reifen auf der "Bühne" erschienen.
- Die Komik, die wir unbewusst boten, war für Onkel Otto ein niemals versiegender Quell von Freude.
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- Als Anima pia ist mir der gütige Mann mein ganzes Leben lang in Erinnerung geblieben.
- "Streng und gerecht wie alle Sommerbrodt", so hat Großmama Minna über ihn geurteilt, dabei aber ausschließlich nur an seine
hohe, berufliche Tätigkeit denkend. Als Amtsrichter hat er in Landeshut in Schlesien gestanden. Der sehr warme Nachruf einer
dortigen Zeitung beweist den hohen Grad der Wertschätzung und Beliebtheit, den er dort besessen hat. Als Auszeichnung besaß
er den Kgl. Adler-Orden III. Klasse mit der ihm zusätzlich verliehenen "Schleife" und den Kgl. Kronen-Orden II. Klasse als
Halsorden.
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- Großonkel Otto starb in seinem fünfundsiebenzigsten Lebensjahre am 31. Mai 1879, ohne vorher krank gewesen zu sein an einem
Schlaganfall, der Todesursache der meisten Mitglieder unserer Familie.
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- Sein Grab ist auf dem Alten Maria-Magdalenen Kirchhof in Breslau gelegen. Als Grabinschrift hat er sich seinen
Konfirmationsspruch gewählt: "Sei getreu bis in den Tod, so will ich Dir die Krone des Lebens geben.".
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- Seine Witwe, unsere Großtante Luise, siedelte im Herbst 1879 in unser Haus über. Sie war, wie ihr Mann, grundgütig und
tiefreligiös. Ich besuchte sie gern, obgleich mit ihre fast niemals fehlenden Versuche, mich mehr für ihre jenseitige Welt zu
interessieren, nicht angenehm waren. Sie schenkte und vermachte mir ausdrücklich verschiedene fromme Bücher, die ich bis heute
gut bei mit verwahrt habe.
- Als Grabinschrift hatte sie sich keinen Bibelspruch gewählt, sondern nur die folgenden Worte auf dem Grabstein ihres Mannes:
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