Besonnte   Vergangenheit
 
 
 
TEIL II.  Die Eltern und Geschwister meines Vaters und dessen Vorfahren.
 
 
Erzählt  von
Erhard Sommerbrodt
Oberstleutnant a.D.
geb. am 28.12.1867 in Breslau, gest. am 28.8.1956 in Wiesbaden 
   
 
 
1807 - 1872
 
Mit meinem Großvater Heinrich Sommerbrodt verbindet sich meine frühste Erinnerung überhaupt. Er war Ende Dezember das Jahres 1871 von Schweidnitz nach Breslau herübergekommen, um an der Freude meiner Eltern über die Geburt ihres zweiten Stammhalters teilzunehmen und um diesen seinen Enkelsohn Heinrich, unseren Heinz, kennen zu lernen.
 
Es ist mir seitdem immer plastisch deutlich geblieben, wie Großpapa mir an seiner auf meiner rechten Fingerspitze gestellten Zigarrentasche versinnbildlicht hat, um welches Maß ich noch zu wachsen hätte, um die Türklinke erfassen und ohne fremde Hilfe das Zimmer verlassen zu können.
 
Niemals mehr habe ich die ganze Situation für mich vergessen, wie ich an einer bestimmten Esszimmertür vor ihm gestanden habe. Seine Figur, ja der Klang seiner Stimme, ist niemals mehr, bis heute, aus meinem Gedächtnis ausgelöscht worden. Ich habe Großpapa nur das eine Mal gesehen.
Vier Wochen darauf war er aus anscheinend bester Gesundheit heraus einem Schlaganfall erlegen.
 
Um meine persönlichen Eindruck herum sind dann die vielen Erzählungen über Großpapa seitens meiner Eltern oder durch Großmama Sommerbrodt oder durch seine in Breslau lebenden beiden Brüder, meine Großonkel Otto und Julius, in allen weiteren Lebensaltern von mir erstaunlich gut haften geblieben. Sein großes Bild über meines Vaters Schreibtisch belebten meine mir vermittelten Eindrücke über ihn stets von neuem.
 
Alle Geschwister meines Großvaters besaßen wie er selbst als köstliches Erbteil ihrer Mutter Julie, geb. Treutler, jene echte und wahre Herzensgüte, die jeden sogleich erreicht und die jeden erwärmt und beglückt. Nach Ansicht meiner Eltern war sie der Schlüssel neben den sonst vorhanden gewesenen guten Charaktereigenschaften, neben Klugheit und Wissen zu den Erfolgen, die Großpapa und seine Brüder gehabt und die sie glücklich werden ließen.
 
Großpapa Heinrich wurde am 1. April 1807 als zweitältester Sohn des Königlichen Hofrats Heinrich, Friedrich, Wilhelm Sommerbrodt - Letochleb in Gross-Glogau a.d. Oder geboren.
Nach bestandenem Abiturientenexamen studierte er in Leipzig anfänglich Chemie, darauf aber Pharmakologie, um den Apothekerberuf zu ergreifen. Seine praktische Lehrzeit begann er in der Mohrenapotheke in Breslau am Markt. Die Wahl des Ortes Breslau war dadurch gegeben, dass sein Vater inzwischen an das Oberlandesgericht Breslau versetzt worden war und die beiden Brüder Otto und Julius dort verheiratet waren. Otto Sommerbrodt war Appellationsgerichts-Präsident, Julius Sommerbrodt Geheimer Regierungs- und Provinzialschulrat.
 
Nach abgeschlossener Ausbildung im Jahre 1830 legte er in Berlin Anfang September j. Js. Seine Staatsprüfung mit dem Prädikat "sehr gut" ab.
Ein Jahr vor seiner Verheiratung mit Minna Luise Herzog, Tochter des verst. Gymnasialdirektors Herzog in Löbau i. Sa. Kaufte er sich Mitte 1837 die Apotheke "Zum goldenen Adler" nebst zugehörigem großem Grundstück am Marktplatz in Schweidnitz.
 
Schweidnitz wurde ihm zur zweiten Heimat. Was ihm diese Stadt gewesen ist, welchen Einfluss er auf deren Entwickelung gehabt und wie sehr sie es ihm gedankt hat, spiegeln die vielfachen Ehrungen wieder, die ihm zuteil geworden sind.
Er gehörte dem Vorstand des evangelischen Kirchekollegiums, den Gymnasial- und des Gewerbeschulkollegiums an und war zweimal in den Provinziallandtag gewählt worden.
 
Als im Revolutionsjahr 1848 auch in Schweidnitz sich die Wogen zu überschlagen drohten, hatte Großpapa die erregte Bürgerschaft durch sein persönliches Erscheinen noch im letzten Augenblick zur Besonnenheit und zum Zurückweichen veranlassen gewusst. Als der dritte Trommelwirbel und die letzte Aufforderung der militärischen Gewalt an die Bürgerschaft bereits vergeblich verklungen war, also unmittelbar vor dem Kommando zur Feuergabe, sprang Großpapa vor und vermochte durch die Autorität seiner Persönlichkeit, mit weithin schallender Stimme, die sonst unvermeidlich gewesenen Blutopfer zu verhüten. Erst auf sein Erscheinen wichen die erregten Demonstranten zurück.
 
Politisch bekannte sich Großpapa zum Geist und zu den Zielen der in der Paulskirche in Frankfurt/M. zusammengekommenen Männer und zu deren Idealen.
 
Am Tage seines fünfundzwanzigjährigen Jubiläums als Stadtverordneten-Vorsteher, am 14. Juli 1867, ehrten ihn seine Mitbürger durch Errichtung einer Heinrich Sommerbrodt-Stiftung aus deren Zinsen "immerwährend und alljährlich" zwei der Gabe würdige Mitbürger je einen Betrag erhalten sollten. Ferner ließ die Stadt ein Ölbild von ihm anfertigen, bestimmt dazu, im großen Saal des Rathauses, in dem alle Sitzungen stattfanden, seinen Platz zu finden.
Dort ziert es auch heute noch den Raum. Auf dem Rahmen befindet sich eine Bronzetafel mit folgender Inschrift:
 
Heinrich Sommerbrodt
Apothekenbesitzer; mehr als 30 Jahre
Stadtverordneten Vorsteher; Mitglied
Des Provinziallandtages; Mitglied des
Evangelischen Kirchenkollegiums,
geb. 1. April 1807 - gest. 30. Januar 1872
 
Ferner erhielt Großpapa an seinem Jubiläumstage zum persönlichen Gebrauch "aus Verehrung und Dankbarkeit" vom Magistrat und Stadtverordneten Kollegium ein silbernes Schreibzeug, nach dem Bedarf der damaligen Zeit ausgestattet mit Tinten- und Streusandfass und Klingel. Es steht auf einem silbernen Tablett mit Widmung und Stadtwappen.
 
Aus Anlass des Ordensfestes, am 18. Januar 1868, bekam Großpapa den Roten Adlerorden IV. Klasse vom König von Preußen verliehen.
 
Großpapa starb plötzlich und unerwartet aus scheinbar nach bester Gesundheit mitten aus rüstigstem Wirken in seinem 64. Lebensjahre. Als er nach einer Sitzung, die er geleitet hatte, mit anschließendem Herrenessen in sein Haus zurückgekehrt war und die ersten Stufen der zu seiner Wohnung hinaufführenden Treppe erreicht hatte, erlag er einem sofort tödlichem Herzschlage.
 
Großmama hatte ihn, wie stets, trotz später Abendstunde erwartet, hatte ihn die Haustür öffnen und auch noch abschließen gehört. Als er dann nach einer Weile aber oben nicht eintraf, ging sie mit einer Kerze ihm entgegen, noch immer ohne Beunruhigung oder ohne böse Vorahnung.
 
Umso schrecklicher war für sie das unvermittelte Erkennen von dem, was geschehen war.
 
Die Erregung und Mittrauer war in der ganzen Stadt ungeheuer groß. Sein Verlust war für alle unersetzlich, für immer für seine Familie und für eine sehr lange Zeit auch für die Stadt, deren Ehrenbürger er hat werden sollen.
 
Das Schweidnitzer Amtsblatt widmete ihm in Nr. 10 vom 7.2.1872 nachstehend im Auszug wiedergegebenen Nekrolog:
 
"Am 17. Juni 1838 bereits wurde H.S. durch das Vertrauen seiner Mitbürger, das er sich schon im ersten Jahre seiner Abwesenheit in Schweidnitz in hohem Grade zu erwerben wusste, zum Stadtverordneten gewählt.
Durch seine Berufstreue im Amt, durch die Tüchtigkeit seiner Gesinnung, steigerte sich das Vertrauen seiner Kollegen bis dahin, dass er von denselben am 14. Juli 1842 zum Vorsteher der Stadtverordneten gewählt und stets bis zum Ende seines Lebens, mithin am 11. Januar 1872 zum dreißigsten Male als solcher wiedergewählt worden ist."
 
 
Nach diesem Wendepunkt ihres Lebens siedelte Großmama Ende des Jahres 1872 nach vorherigem Verkauf der Apotheke und des Grundstückes nach Breslau über. Dort wohnten wir und ihre beide Schwager, Otto und Julius. Sie zog von Anbeginn an in unser Haus. Meine Eltern erzeigten ihr alle Liebe, um ihr ihre Vereinsamung und den jähen Wechsel vergessen zu machen und ihre beiden Töchter, Elisabeth und Johanna besuchten sie öfters in den ersten Jahren von Recklingshausen aus oder von Cordeshagen i. Pommern, falls sie den Sommer nicht bei ihnen verbracht hatte. Etwa im Jahr 1885 siedelte Tante Elisabeth nach erfolgter Pensionierung ihres Mannes, meines Onkels Ernst v. der Hardt, Oberst z. D., nach Breslau über. Großmama Minna war eine der vielen trefflichen selbstlosen Frauen der Sommerbrodt, die sich ganz in den Dienst der Familie gestellt, ihren Männern und Kindern beste, liebevolle Kameradinnen waren und für als selbstverständlichen Dank niemals aufhörende Liebe empfingen.
 
Die 34 Jahre währende Ehe meiner Großeltern ist überaus glücklich gewesen; sie war am 17. Mai 1838 geschlossen worden. Großmama ist die schon mit vier Jahren verwaiste Tochter des am 27.4.1825 verstorbenen Direktors des Gymnasiums in Löbau in Sachsen und seiner am 19.11.1826 verstorbenen Ehefrau Luise geborene Lucas.
 
Nach dem so frühen Tod ihrer Eltern nahm die Schwester der Mutter Großmama zu sich, die in Zittau in Sachsen an den reichen Kaufmann, Seiden- und Kämmel verheiratet war.
 
Mit inniger Liebe hat Großmama während ihres ganzen, langen, 88 Jahre währenden Lebens an ihren Pflegeeltern gehangen. Nichts gab es, was Onkel Kämmel nicht auch damals schon besessen hätte, nichts, tatsächlich nichts, was schöner und besser gewesen wäre, als einst bei Onkel Kämmel. Bei jeder nur möglichen Gelegenheit wurde er, der Onkel Kämmel, erwähnt. Der reiche Haushalt in eigener Villa, 2 Wagen mit "edlen Pferden", die zahlreichen Reisen mit Kämmels hatten einen unauslöschlichen Eindruck auf das jugendliche, empfängliche Gemüt unserer Großmutter für immer ausgeübt. Die weitere, größere Welt, die sie zu sehen bekommen hatte, ließ ihre geistigen Anlagen zur vollen Entwickelung gelangen. Sie trug sie als Erbe einer langen Reihe bedeutender Vorfahren in sich. Sie war stolz, von ihnen erzählen und sie in lückenloser Folge bis zum Jahre 1588 nennen zu können. Durch vier Pastoren-Generationen führt sie bis zum "vornehmen Rathsverwandten" der Stadt Naumburg hinauf.
 
Bei ihrer Verheiratung war Großmama zwanzig Jahre alt. Die Trauung fand in Kleinschönau bei Zittau in Sachsen in derselben Kirche statt, in der 24 Jahre vorher ihre Eltern getraut worden waren. Ein Teil ihrer Ausstattung stammt von ihren Pflegeeltern, so auch das inzwischen auf Dorothee nach Stuttgart gekommene Biedermeierzimmer.
 
Als die Frau des im Stadtparlament in Schweidnitz zweithöchsten Mannes hat Großmama ihre Stellung sicherlich sehr gut auszufüllen verstanden. Sie ist dort und auch später bis in ihr hohes Alter immer als eine kluge, für alles interessierte, feinsinnige, lebensbejahende Frau anerkannt worden.
Bei den Zusammenkünften mit anderen schöngeistigen Frauen las man neben den Klassikern auch selbstverfasste Gedichte und führte kleine Theaterstücke auf, in denen Zeit und Personen schelmisch getroffen waren. Man lebte in der Biedermeierzeit. Großmama war dichterisch veranlagt und hat dieses Können sowohl auf meinen Vater wie auf ihre Tochter Elisabeth weitervererbt. Mein Vater gab die dichterische Veranlagung auf mich weiter und ich wiederum auf unseren Erhard.
 
Allzu blaustrümpfig wird aber Großmama nicht gewesen sein. Ihre Koch-, Brat- und Backkünste waren überaus geschätzt und ebenso begehrt wie ihre guten sächsischen Rezepte für Kulinarische Genüsse aller Art. Um ihre Sahnetorten und Bittere-Mandel-Bretzeln rankte sich der Mythos der Unübertreffbarkeit genauso wie um die Knusprigkeit ihrer Gänsebraten.
 
Die Großeltern waren auf ihre drei Kinder sehr stolz. Papa war mühelos als Primus durch das Gymnasium gegangen, hatte so schnell und so gut wie überhaupt möglich seine medicinische Studien in Breslau, Würzburg und Greifswald absolviert und war als flotter Burschenschafter bei den Raczeks, der Ur-Burschenschaft, mit einer beschränkten Eulage ausgekommen.
 
Die beiden Schwestern von Papa verkörperten alle guten weiblichen Eigenschaften, waren tatsächlich bildschön und sind von dem Schlesischen Dichter Holtey als schönste Mädchen Schlesiens besungen worden. Tante Elisabeth wurde die Frau des in Schweidnitz in Garnison stehenden, damaligen Hauptmanns Erbst v. der Hardt. Tanze Johanna heiratete den Rittergutsbesitzer Otto Senglier nach Cordeshagen bei Cöslin in Pommern, den sie bei seiner in Breslau lebenden Mutter Hulda, geb. Barneckow kennen gelernt hatte.
 
Durch die Verlobung meiner Eltern traten zwei von einander grundverschiedene Welten miteinander in Berührung und verbinden, die sich aber von Anfang an nicht nur gefallen, sondern auch verstanden haben. Die Großeltern standen ganz im Bann und Zauber der südländisch ungehemmt gegebenen Liebenswürdigkeit und Offenherzigkeit der großzügig denkenden und handelnden Gegenschwiegereltern, während diese wiederum ehrlichst das ihnen bis dahin unbekannt gebliebene deutsche Honoratioren- und beste Hausfrauentum bewunderten. Die hübsche Mittelstadt Schweidnitz hatte dabei eine besondere Note. So ist ihnen ihr erstes und einmalig gebliebenes Erlebnis im Schweidnitzer, städtischen Recourcengarten unvergessen geblieben, den man nach dem festlichen Verlobungsessen am Nachmittag aufgesucht hatte. Um den Einzug der beiderseitigen Eltern und deren Kinder und des jungen Brautpaares besser sehen zu können, bildeten die sehr interessierten Bürger und Bürgerinnen nicht nur ein mehrreihiges Spalier, sondern hatte sogar Tische und Stühle bestiegen, um besser sehen zu können, was unter begeistertem Schwenken von Taschentüchern und einigen Hochrufen ausgiebig vor sich ging. Mama und ihre Eltern hatten bisher eine solche Beachtung ihrer Persönlichkeit weder in Triest noch in Wien noch in Breslau kennen gelernt.
 
Obgleich wir mit Großmama oft zusammenkamen, fühlten ich und Heinz, dass wir in unseren jüngeren Jahren ihr nicht so nahe standen wie die anderen Enkelkinder.
Es mag das wohl dadurch gekommen sein, dass wir vor ihrer Klugheit einen zu großen Respekt hatten, oder dass uns ihre Erzählungen über Schweidnitz und seine Geschichte zunächst nicht allzu sehr interessierten, oder dass sie uns zu eingehend nach unseren Schularbeiten und Klassenresultaten befragte. Wir sahen in ihr wohl die gütige Mutter unseres Vaters, waren uns aber einig, dass es unten im Parterre bei Großpapa ungleich gemütlicher war.
Später änderte sich natürlich unsere Einstellung zu ihr vollkommen, was aber nicht hinderte, dass mir mein erster Theaterbesuch in Verbindung mit Großmama in nicht vollkommen ungeteilter Freude immer in Erinnerung geblieben ist.
 
Es war "Der Freischütz", den mich meine Eltern als erste Oper sehen ließen. Die Vorfreude und Spannung hierauf beeinflusste mich schon Tage vorher. Die Ouvertüre und einige der schönsten Lieder kannte ich durch das häufige, abendliche Klavierspiel von Papa längst bestens und wusste über den Inhalt der Oper Bescheid. Dafür hatte Mama gesorgt. In feierlicher Stimmung fuhren wir, die Eltern, Großmama und ich in unserer "Leibdroschke" ins nahe Stadttheater. Einige peinliche Fragen von Großmama an mich gestellt, zeigten ihr aber, dass mir die letzten Finessen des Textbuches doch nicht vollkommen erschlossen waren. Die etwas spitzige Instruktion traf ebenso mich auch die Eltern und einigermaßen verstimmt betraten wir unsere Loge.
 
In welchem Lebensalter von mir diese "Operneinführung" stattgefunden hatte, weiß ich nicht mehr mit Sicherheit anzugeben: vielleicht war ich 10 oder 11 oder 12 Jahre alt. Doch war es noch in der "guten, alten Zeit" in Breslau, als die Straßenbahn von Pferden gezogen, eingleisig langsam bis zur nächsten Ausweichstelle klingelte und die Leierkastenmänner allwöchentlich an drei Abenden zwei Stunden lang immer dieselben Stücke ihrer Walze in viel zu langsamen Tempo drehten und als die Laternenanzünder erst auf der rechten, dann auf der anderen Straßenseite die Petroleumlampen mit Hilfe ihrer Leiter und eines am Hosenboden entzündeten Phosphor-Schwefel-Zündholzes aufflammen ließen und als nur in den Hauptstrassen dreizackige Gasbrenner bläulich leuchteten, als es noch keine Kanalisation in jedem Hause gab und die monatlichen Ausräumungen der Gruben in den Höfen von 10 Uhr abends an zum Himmel stanken und als gerade der Phonograph, der Vorläufer des Grammophons, in Sondervorführungen am Nachmittag von uns Schuljungens bestaunt, handgekurbelt nur immer die wenigen Worte scharren konnte, dass er aus Amerika-a-a-a-a-a gekommen sei, und als wir die Schularbeiten unter der Petroleum-Hängelampe anfertigen und wir uns ein großes Lob verdienen konnten, wenn wir nicht am Docht geschraubt hatten und somit die Luft klar und Gardinen, Nase und alle Möbelstücke von einer dicken schwarzen Rußschicht verschont geblieben waren, und als die Dienstmädchen die alten Damen noch mit "Madame" anreden mussten und als wir bei 25 Grad Kälte, geschützt durch russische Baschlikmützen, die heruntergeklappt vom Gesicht nur einen kleinen Augenschlitz freiließen, noch bei Dunkelheit früh in die Schule eilten.
Das alles liegt erst etwa 64 Jahre zurück und ich entsinne mich an alles noch zo sehr deutlich und genau.
 
Nach dem vorzeitigen Tod von Papa am 14. August 1893 wurde unser aller Verhältnis zu Großmama ein sehr herzliches. Besonders zwischen ihr und meinem Bruder Walter.
 
Die gemeinsame Trauer führten Mama mit Walter oft zu Großmama hin. Walter, den die ersten schweren, zu tiefst empfundenen Ereignisse krank gemacht hatten, musste etwas abgelenkt werden, was allmählich auch dadurch gelang, dass Großmama sein Interesse für die Sommerbrodt´sche und ihre Herzog´sche Familienchronik zu wecken verstand. Sie zeigte ihm die von ihr treu verwarten Dokumente und Bilder aus der langen Reihe ihrer und unserer Ahnen und erzählte von deren Verdienste in stets gehobenen Stellungen und was sie selbst festgestellt und aufgezeichnet hatte oder was sie aus der Tradition wusste.
 
Obgleich Walter damals erst dreizehn Jahre alt war, fielen ihre Worte auf einen sehr guten Boden und gingen in ihm auf und brachten uns durch seine Familienforschungen den ganz großen Gewinn in späteren Jahren.
 
Während ich und Heinz durch unseren Beruf bereits, durch unsere Tätigkeit in strengen Truppendienst der ersten Jahre, ganz auf eine sehr vitale Gegenwart eingestellt waren und das Zusammensein mit den Kameraden, Rekruten und Pferden uns keine Zeit gab, privaten Interessen nachzugehen, konnten in der Stille des Breslauer Trauerhauses, und fast unter liebevollem weiblichen Einfluss stehend, die guten Anlagen Walters idealeren Dingen zugeführt und für diese interessiert werden. Schließlich hat Walter in seiner Referendarzeit die czechieche Sprache erlernt, um an Ort und Stelle, in Prag und Chrudim in Böhmen, Forschungen über unsere Vorfahren Litochleb anstellen zu können. Allein seinem Verdienst ist es zuzuschreiben, dass wir nicht nur den Stammbaum der Sommerbrodt-Litochleb in aufsteigender, direkter Linie bis 1534 besitzen, sondern auch den Stammbaum der gleichzeitig mit uns 1732 aus Böhmen ausgewanderten Berliner Vetternlinie.
 
Die Freude an diesem seinem Wirken und Schaffen hat Walter niemals mehr verlassen. Erst durch den ersten Weltkrieg und dann durch seine schwere Nierenerkrankung ist er an weiteren Nachforschungen gehindert worden. Er wusste es und hat es auch ausgesprochen, dass ihm, dem erst dreiundvierzigjährigen, wie im "Totentanz" von Holbein, der Tod den Schreibgriffel vorzeitig aus der Hand nehmen würde. Sein Vorhaben, das Wirken der Litochleb auch um die Zeit von 1416 zu schildern. In der einer unserer Vorfahren Bürgermeister von Prag ist, den Vorsitz des "Gerichtes der sechs Herren" führt und als einer der vier bedeutendsten Vertreter der Revolution in Prag um Huss entscheidenden Einfluss auf die ganze Bewegung nimmt. Dieses sein Vorhaben sollte nicht mehr zur Ausführung kommen.
 
Es sei über Großmama Sommerbrodt noch nachgetragen, dass sie einen einzigen, um drei Jahre älteren Bruder, Ernst, besessen hat.
 
Nach dem so frühen Tod der Eltern übernahm eine den Kämmels in Zittau eng befreundete Familie die Pflege und Erziehung von Ernst Herzog. Er kam in die kaufmännische Lehre und brachte es zu der geachteten Stellung eines Prokuristen, hat es aber niemals in seinem Leben verschmerzen können, dass er wegen fehlender Mittel nicht hat Theologie studieren können. Hierzu hatte er sich, wie so viele der Vorfahren von ihm, aus innerster Einstellung berufen gefühlt.
 
Großmama Minna haben wir niemals krank gesehen. Bis in ihr hohes Alter hinein nahm sie an allen Tagesereignissen sehr regen Anteil. In immer zunehmendem Masse setzte sich ihre Güte durch und ihr Interesse an der jungen und jüngsten Generation nach ihr, der sie Urgroßmutter geworden war.
Sie lebte zwar mit Vorliebe der Vergangenheit und korrespondierte auch zuletzt noch in kalligraphisch schönen Schriftzügen mit den Ihrigen und den wenigen ihr noch übriggebliebenen Freundinnen, hatte aber doch auch noch ein so reges Interesse an der Gegenwart, dass sie an schönen Tagen von ihrem Fenster aus durch ihr Opernglas die Menschen und Vorgänge auf der Neuen Taschenstrasse stundenlang beobachten konnte.
Großmama war immer eine sehr schöne Frau gewesen und war es auch bis in ihr höchstes Alter geblieben. Sie glaubt in tiefster Überzeugung daran, dass durch den Tod sie mit ihrem über alles geliebten Mann wieder vereint sein wird.
In ihrem achtundachtzigstem Lebensjahre ist sie am 26.6.1906 sanft entschlafen. Sie wurde, wie sie es gewünscht, nach Schweidnitz überführt. Auf dem Kirchhof der Friedenskirche, unweit des Haupteinganges, hat sie neben Großpapa ihre letzte Ruhestätte gefunden.
 
Ahnenfolge der Herzog
 
Johann Herzog
Vornehmer Ratsverwandter und Kammerschreiber in Naumburg a. Saale,
vermählt mit Maria Weise, Tochter des Bürgermeisters Weise in Naumburg, 1588.
 
Magister Johann Herzog
geb. 18. Januar 1615 - gest. 23. Februar 1657
Archidiakonus an der Kreuzkirche in Dresden.
 
Magister Johann-Ernst Herzog
geb. 24. Dezember 1654 - gest. 27. Oktober 1715
Pastor primarius in Zittau i. Sachsen.
 
Magister Friedrich Gottlob Herzog
Geb. 27. Oktober 1689 - gest. 1751
Archidiakonus in Zittau i. Sachsen.
 
Magister Christian August Herzog
Geb. 31 Dezember 1737 - gest. 15. August 1803
Pastor in Ebersbach bei Zittau i. Sachsen.
 
Magister Christian August Herzog
Geb. 31. Dezember 1778 - gest. 27. April 1825
Direktor des Gymnasiums in Löbau i. Sachsen.
 
Minna Luise Herzog
Geb. 20. März 1818 - gest. 26. Juni 1906
Vermählt mit Heinrich Ferdinand Sommerbrodt
Apothekenbesitzer in Schweidnitz,
mehr als 30 Jahre Stadtverordneten Vorsteher,
Mitglied des Provinziallandtages,
geb. 1. April 1807 - gest. 30. Januar 1872.
 
Dr. med. Julius Sommerbrodt
Geb. 28. Februar 1839 - gest. 14. August 1893
Professor an der Universität Breslau,
vermählt mit Ida Girardelli aus triest i. Italien.
 
Erhard Sommerbrodt
Geb. 28. Dezember 1867 - gest.
Regimentskommandeur im ersten Weltkrieg,
Oberstleutnant a.D.,
vermählt mit Marie Agath aus Breslau
geb. 28. April 1883 - gest. 10. Mai 1945
 
Dorothee
Geb. 11. Februar 1903
 
Hans
Geb. 14. Februar 1904
 
Helmut
Geb. 18. Dezember 1911
 
Erhard
Geb. 18. Dezember 1910
Vermählt mit Ilse van Wietersheim
 
Achim
Geb. 3. August 1942
 
Erhard
Geb. 23. September 1943
 
Agahte
Geb. 12. Dezember 1947
 
Die Geschwister meines Großvaters Heinrich Sommerbrodt
 
Die vier Geschwister meines Großvaters waren alle, wie auch er, in Glogau a. Oder geboren.
 
Ich habe nur seinen ältesten Bruder Otto und seinen jüngsten Bruder Julius kennen gelernt, die beide in Breslau lebten. Sein Bruder Louis und seine einzige Schwester Pauline waren nach Berlin übergesiedelt und dort verheiratet.
 
Zunächst war nach Großpapas Tod Großonkel Otto unser Familienoberhaupt. Nach seinem im Mai 1879 erfolgten Tode wurde es Großonkel Julius. In ihm aber erkannten wir nicht allein nur das hochverehrte Oberhaupt, sondern alsbald den überaus geliebten Stellvertreter unseres zu früh abberufenen Großvaters, der ihn um volle einunddreißig Jahre überlebt hat.
 
Während Großonkel Otto nur immer die vollendetste, reinste Güte selbst gewesen war, war dieses zwar Großonkel Julius auch in gleicher Weise. Hinzu kam aber bei ihm der Zauber seiner Ehrfurcht gebietenden Persönlichkeit und das beglückende Empfinden, bei ihm nicht nur sicher geborgen zu sein, sondern liebevoll geführt zu werden und an dem Quell seiner Weisheit und Lebenserfahrungen zu eigenem Nutzen teilnehmen zu können.
 
Es ist zu unterscheiden, was Großonkel Julius mir in jüngeren Jahren und was er mir gewesen ist, nachdem ich ins Leben getreten war.
 
Als Schüler hatten ich und Heinz Hemmungen in seiner Gegenwart. Wir sahen in ihm vornehmlich den hochgestellten Lehrer, den Provinzialschulrat, der unser nicht immer einwandfreies Wissen und Können durchschauen könnte. Wir merkten es ja auch an dem beinahe respektvollen Verhalten, besonders der jüngeren Lehrer uns gegenüber, welche besondere Hochachtung ihm gebühre. Ohne unsere Hemmungen hätten wir auch damals schon viel zärtlicher und aufgeschlossener zu ihm sein müssen; denn gütiger zu uns und interessierter um uns hätte der eigene Großvater nicht sein können. Er wollte uns von Anfang an Freund und Kamerad sein. Und das erkannten wir in jüngeren Jahren nicht vollkommen genug.
Bald aber werden meine Besuche bei ihm und unsere Zusammenkünfte zu meinen liebsten Erinnerungen. Auf manchen, der Schule ferner liegenden Gebieten hatten wir uns ja schon immer gefunden gehabt. So habe ich oft den Zoologischen Garten in der Hoffnung aufgesucht, Großonkel Julius dort anzutreffen. Er besuchte ihn sehr oft. Aus seinen Beobachtungen und Kenntnissen über alle Tiere konnte meine Tierliebe stets Gewinn haben. Obgleich er Musik nicht selbst ausgeübt hat, hörte er sie, besonders Beethoven, sehr gern. Manche Sätze seiner Sonaten, vornehmlich die Adagios und die Variationen, habe ich schon während des Übens ihm dargebracht, weil ich wusste und es gesagt bekam, dass die tiefsten Stellen auch sein Gemüt am tiefsten bewegten.
 
Er war immer, und in jedem Fall immer, der wirklich Gebende, obgleich man in seiner Gegenwart glaubte, ihm selbst bei dem hinreißenden Schwung seiner Beredsamkeit in der Entgegnung auch etwas gegeben zu haben. Selbst auf militärischem Gebiet wusste er Bescheid und selbst hier wurde ich der Empfangende, wenn er militärische Fragen mit politischen verband. Mir ging es genau so wie allen den Menschen, auf die der Strahl seiner Sonne fiel. In seiner Gegenwart fühlte man, geistige Flügel erhalten zu haben.
Und wie groß war bis in sein höchstes Alter hinein seine Lebensfreude und Lebenskraft! "Raste ich - so roste ich" und: "Des Geistes Frucht ist Freude", das waren seine beiden Wahlsprüche immer gewesen. Nach bis zum 85. Lebensjahr unternahm er - ohne Begleitung - meist sechswöchige Reisen nach Rom, Florenz, Modena, Venedig, um an Ort und Stelle Quellenstudium für seine bis zuletzt immer in neuen Auflagen herausgekommenen Werke über seine Lieblingsschriftsteller Lucian und über das "altgriechische Theater" zu machen.
 
Bis zu seinem 84. Lebensjahr nach gehörte er der Wissenschaftlichen Prüfungskommission als deren Direktor an und bis zu seinem 72. Lebensjahre war er der amtierende Schulrat und Geheime Regierungsrat für die Provinz Schlesien.
 
Hohe Ordensauszeichnungen waren ihm verliehen worden, so der Kronen Orden II. Klasse und der Hausorden von Hohenzollern, beides Halsorden.
 
Bei seinem Scheiden erhielt Großonkel Julius als sichtbares Zeichen der Verehrung und des Dankes vom gesamten Lehrerkollegium an den staatlichen Gymnasien Schlesiens Tafelsilber für 18 Personen, das, weil seine Familie erloschen ist, auf unseren Stamm gekommen ist und das einmal unserem Helmut gehören wird.
 
Das reich gesegnete Leben von Großonkel Julius ging in seinem neunzigsten Jahre, friedvoll ausklingend, zu Ende. Ohne Krankheit erwartete er gläubigen Herzens seine irdische Vollendung, bis zuletzt hingebend gepflegt und betreut von seiner einzigen Tochter Erdmuthe während seiner langen, zweiundzwanzig Jahre verbrachten Zeit als Witwer.
 
Als Grabmal hatte er sich ein aufrechtstehendes Kreuz aus weißem Marmor gewünscht neben dem gleichen Kreuz seiner über alles geliebten Frau mit der Inschrift seines Wahlspruches: "Des Geistes Frucht ist die Freude.". Über diesen Bibelspruch hielt auch der Geistliche im Trauerhaus, Klosterstrasse 12, die Trauerrede. Onkel Julius hatte, wie auch sein Vater, der Reformierten Kirche angehört.
An einem kalten, sonnigen Wintertage, am 9. Januar 1903 betteten wir ihn zur letzten Ruhe.
 
Einen sehr schönen Ausdruck für das, was Großonkel Julius seinen Standesgenossen und allen, die ihm beruflich nähertreten durften, gewesen war, hat Geheimrat Förster, der Dekan der Breslauer Universität, in seinem Nekrolog auf ihn gefunden, den er im Jahresbericht für Altertumswissenschaft, Breslau, Band 141, 1904 hat abdrucken lassen, nachdem er zum ersten Male ein Jahr nach Großonkel Julius Tode ihn in der Schlesischen Zeitung hatte erscheinen lassen.
 
Ferner erschien im Jahre 1926 im Furche-Verlag, Berlin, unter dem Titel: "Erinnerungen eines alten Professors an namhafte Zeit- und Lebensgenossen, von Siegfried Göbel", ein aufschlussreicher, sehr interessanter Abriss über das Wirken und Leben von Julius Sommerbrodt.
 
Die Trauerrede des Geistlichen der reform. Gemeinde wie der Nekrolog des Geheimrats Förster befinden sich, wie so viele andere wertvolle Sachen, im Familienarchiv.
 
1820 - 1881
 
Die Lebensgefährtin von Großonkel Julius, Marie, entstammte der damals durch ihre Schriften bekannten und geschätzten Philologenfamilie der Passow. Sie war ihrem Manne geistig gleichwertig und zudem zeichnerisch sehr talentiert. Ihre Schwester war an den Oberlandesgerichtspräsidenten in Mann in Westfalen, den späteren Preußischen Kulturminister Dr. v. Falk verheiratet.
Aus der Ehe von Großonkel Julius waren vier Kinder hervorgegangen, Erdmuthe, Gottwald, Max und Ernst.
 
Max Sommerbrodt war als Oberstabarzt in seinem 50. Lebensjahr in Berlin, unverheiratet, gestorben. Während seiner militärischen Laufbahn stets im Preußischen Gardekorps belassen, war ihm nach Beendigung des Deutsch-Französischen Krieges vom Kriegsministerium aufgetragen worden, für dieses den als Anhang für das Generalstabswerk bestimmten Bericht zu Verfassen: "Über die vorgekommenen Verwundungen und die Ausfälle an Seuchen und an anderen Krankheiten während des Feldzuges 1870/71.". Noch einen weiteren ehrenvollen Auftrag hatte er 1888 vom Preußischen Staate erhalten. Als in Südrussland in bedrohlicher Form die Pest aufgetreten war, war er als Leiter der staatlich dorthin zur Erforschung der Seuche entsandten Kommission bestimmt worden und neun Monate dort tätig gewesen.
 
Ernst Sommerbrodt war Philologe, wie sein Vater. Er war erst Lehrer in Hannover, wo er seine Frau Lilli, geb. Wendte, kennengelernt, und dann Direktor des kgl. Gymnasiums in Lauben in Schlesien. An beiden Wirkungsstätten war er sehr geschätzt und beliebt. Als sichtbarer Beweis hierfür ist auch der Roman zu bewerten, den einer seiner Schüler, der später als Schriftsteller mehrfach hervorgetretene, Oberlandesgerichtspräsident Rudorff unter dem Titel hat erscheinen lassen: "der Untersuchungsrichter und der Prozess der Lotte Grell.", im Verlage von Carl Reissner, Dresden.
Auf meine Anfrage beim Verfasser, was ihn bewogen habe, in seinem Roman eine der Persönlichkeiten unter dem Namen Sommerbrodt auftreten zu lassen, antwortete er mir, dass er seinem hochwertigen, von ihm hochverehrten, einstigen Lehrer auf dem Kaiser Wilhelm Gymnasium in Hannover habe ein Denkmal setzen wollen.
Ernst Sommerbrodt hatte das geistige Erbe seiner Eltern gut verwaltet. Seine Frohnatur hatte er von beiden Seiten, vielleicht aber mehr noch vom Erbgut der Mutter.
Ihr Vater hatte im Jahre 1807 eine köstliche, freie Übersetzung der, stets nebenan im Original abgedruckten, Dichtungen: "Küsse", des römischen, galanten Schriftstellers Jucundus im Buchhandel erscheinen lassen. Der alte Dichterschelm und sein Übersetzer haben an Lebensbejahung und Freude am Leben nichts zu wünschen übrig gelassen. Wer aber, wie Passow, an solchem Stoff solches Behagen hatte und ihn so überquellend mitempfindend und doch so zart zu übertragen und vorzutragen verstand, der muss Liebling von Jedermann, vornehmlich aber der Jugend gewesen sein, ein Jugendlehrer, wie wir ihn uns alle in unserer Jugend auch gewünscht, aber so selten nur gehabt haben.
 
Die Dichtung "Küsse" befindet sich in der Bücherei des Familienarchivs.
 
Nicht minder verehrt, als es Großonkel Julius von uns allen gewesen, war der gleichfalls in Breslau lebende älteste Bruder meines Großvaters, Großonkel Otto Sommerbrodt.
 
Da er nur vierzehn Häuser von uns entfernt wohnte, auf unserer Neuen Taschenstrasse 21, sahen wir ihn und Großtante Luise sehr oft, entweder zur Vesper bei den sonntäglichen Familientreffen bei meinen Eltern oder fast täglich auf der unseren Fenstern gegenüberliegenden Straßenseite, wenn er um die Mittagszeit vom Amt nach Hause kam, vom Appellationsgericht, dessen Präsident er war.
 
Ein nicht endenwollendes gegenseitiges Winken erfreute beide Teile. Obgleich seine Ehe kinderlos geblieben war, war er außerordentlich kinderlieb. Seine Güte und Liebe zu uns war mehr empfangender Art für ihn, während Großonkel Julius auf gleicher Grundlage stehendes Interesse zu uns mehr gebender für ihn gewesen ist. Als Kinder ritten wir auf seinen Knien und als Jungen wünschten wir uns von ihm Obst und Südfrüchte oder mit ihm den Besuch von Jahrmarktsbuden oder der häufig Gastrollen gebenden Affen- und Hundetheater und Abnormitätenkabinetts. Zu allen diesen Veranstaltungen war jedes Mal auch Mama eingeladen, die sich zusammen mit uns, oder wahrscheinlich über uns, herzlichst amüsierte, wie das auch der gute Onkel tat. In etwas älteren Jahren von uns Jungen war er unser dankbarster Zuschauer, wenn wir ihm selbstverfasste "Theaterstücke" aufführten. Die Wolfsschlucht, Hölle, Tod und Teufel erschienen dabei inmitten selbstgefertigter Kulissen bei roter und grüner bengalischer Beleuchtung.
Die Schlussapotheose bestand dann regelmäßig darin, dass Heinz und ich als Räuber oder Teufel, "geschminkt" mit angebranntem Korkpfropfen, durch Sprung durch einen mit rotem Florpapier bespannten Reifen auf der "Bühne" erschienen.
Die Komik, die wir unbewusst boten, war für Onkel Otto ein niemals versiegender Quell von Freude.
 
Als Anima pia ist mir der gütige Mann mein ganzes Leben lang in Erinnerung geblieben.
"Streng und gerecht wie alle Sommerbrodt", so hat Großmama Minna über ihn geurteilt, dabei aber ausschließlich nur an seine hohe, berufliche Tätigkeit denkend. Als Amtsrichter hat er in Landeshut in Schlesien gestanden. Der sehr warme Nachruf einer dortigen Zeitung beweist den hohen Grad der Wertschätzung und Beliebtheit, den er dort besessen hat. Als Auszeichnung besaß er den Kgl. Adler-Orden III. Klasse mit der ihm zusätzlich verliehenen "Schleife" und den Kgl. Kronen-Orden II. Klasse als Halsorden.
 
Großonkel Otto starb in seinem fünfundsiebenzigsten Lebensjahre am 31. Mai 1879, ohne vorher krank gewesen zu sein an einem Schlaganfall, der Todesursache der meisten Mitglieder unserer Familie.
 
Sein Grab ist auf dem Alten Maria-Magdalenen Kirchhof in Breslau gelegen. Als Grabinschrift hat er sich seinen Konfirmationsspruch gewählt: "Sei getreu bis in den Tod, so will ich Dir die Krone des Lebens geben.".
 
Seine Witwe, unsere Großtante Luise, siedelte im Herbst 1879 in unser Haus über. Sie war, wie ihr Mann, grundgütig und tiefreligiös. Ich besuchte sie gern, obgleich mit ihre fast niemals fehlenden Versuche, mich mehr für ihre jenseitige Welt zu interessieren, nicht angenehm waren. Sie schenkte und vermachte mir ausdrücklich verschiedene fromme Bücher, die ich bis heute gut bei mit verwahrt habe.
Als Grabinschrift hatte sie sich keinen Bibelspruch gewählt, sondern nur die folgenden Worte auf dem Grabstein ihres Mannes:
 
"Ihm folgte freudig nach in den Tod nach glücklichster Ehe
Luise Sommerbrodt, geb. Lachel
geb. 19. März 1811
gest. 20. Januar 1885."
 
Von den beiden in Berlin verheiratet gewesenen Geschwistern meines Großvaters sei erwähnt, dass Großonkel Louis Sommerbrodt von Jugend an ein ausgesprochen kaufmännisches Talent besessen hat im Gegensatz zu seinen drei anderen Brüdern als Akademiker.
 
Seine Eltern richteten ihm in Breslau, Albrechtstrasse 13 ein "Buch- und Papiergeschäft mit Druckerei" ein. Nachdem er dieses zu seiner Verlagsanstalt umgestaltet hatte, verkaufte er es und erwarb dafür Ende 1848 das Mustergut Wachau bei Rodeberg in Sachsen. Nach einer Reihe von Jahren tauschte er Wachau in mehrere Häuser in Dresden ein.
Er war zweimal verheiratet gewesen, in zweiter Ehe mit Ernestine Hornauer. Sein aus dieser Ehe hervorgegangener einziger Sohn Paul starb im Alter von 38 Jahren als Apotheker und Besitzer einer chemischen Fabrik in Berlin. Seine einzige, gleichfalls aus dieser Ehe hervorgegangene Tochter Clara heiratet nach Liegnitz den wohlhabenden Kaufmann Krebs. Diese kam meine Eltern jedes Mal besuchen, wenn sie in Breslau zu Besorgungen anwesend war. Wie alle Sommerbrodt war sie auch nur von Figur mittelgroß. Bei großer Aufgeschlossenheit war sie eine Frohnatur von echter Güte und Liebenswürdigkeit. Sie starb 1915 im Alter von 75 Jahren.
 
Über Großonkel Louis Sommerbrodt Anteilnahme an den damaligen Zeitfragen geben Schriftstücke Aufschluss, die in der Breslauer Stadtbibliothek unter der Signatur Ib/905, 1-5, aufbewahrt sind:
 
Aufruf des constitutionellen Vereins über den Plan eines Institutes zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit.
Bericht der Generalversammlung des constitutionellen Vereins vom 10.4.1848.
 
Hierunter stehen die Unterschriften:
Dr. Röpell, Kries, Louis Sommerbrodt
 
Großonkel Louis Sommerbrodt erreichte nur ein alter von 66 Jahren. Er starb am 26. September 1877.
 
Seine Witwe zog sich nach Auerbach an der Bergstrasse zurück und kaufte sich dort eine Villa mit anliegenden Weinbergen. Sie starb am 22.4.1892.
 
Die einzige Schwester meines Großvaters, Pauline, war in Berlin mit dem Oberlehrer Fritz Schneider verheiratet. Das einzige dieser Ehe entstammende Kind, Paul, erreichte nur ein Alter von 21 Jahren.
Großonkel Schneider war ein eifriger Forscher der protestantischen Sekte der Schwenckfeldianer, so genannt nach deren Begründer Kaspar von Schwenckfeld, geb. 1489 bei Liegnitz in Schlesien.
 
Der Bruder von Fritz Schneider war Schriftsteller und der Vertraute und Vorleser des alten Kaiser Wilhelm I. Sein schönes Buch über seinen Kaiserlichen Herrn und über die damalige Zeit war z.Zt. sehr gern gelesen und geschätzt.
 
1770 - 1829
 
Mein Urgroßvater Heinrich, Friedrich, Wilhelm, Balthasar Sommerbrodt-Litochleb wurde am 21. Januar 1770 in Peitz in der Lausitz als jüngster Sohn des Oberpfarrers und Superintendent Wenzeslaus Letochleb (s. Seite 45) und seiner Ehefrau Charlotte, Elisabeth, geb. Niete, geboren.
 
Er nimmt dadurch eine besondere Stellung in unserer Familie ein, da er es gewesen ist, der unseren nachweislich seit dem Jahre 1380 geführten böhmischen Namen Li(e)tochleb in Sommerbrodt hat verdeutschen lassen.
Die Urkunde über die genehmigte Namensänderung bezw. Ihren Aufbewahrungsort hat weder mein Bruder Walter noch ich bisher ermitteln können. Meine beim Amtsgericht Glogau begonnenen Nachforschungen blieben ohne Ergebnis. Als er im September des Jahres 1801 heiratete, also mit einunddreißig Jahren, nannte er sich aber bereits Sommerbrodt. Um diese Zeit haben nacheinander auch die vielen Mitglieder unserer Berliner Vetternlinie ihren Böhmischen Familiennamen in Sommerbrodt verdeutschen lassen, sodass man darauf fußend, weiter forschen müssen wird.
 
Anno 1743, 2. IV. nennt aber bereits der Rektor der Universität Halle den stud. Theol. Letochleb: "Sommerbrodt". Unser Urgroßvater hat zuerst in Halle Theologie studiert und hat daran anschließend eine Pfarrstelle in der Provinz Posen erhalten.
 
Nach einiger Zeit finden wir ihn als Gouverneur am Kadettenhaus im Berlin. Er erteilte wahrscheinlich Relig.-Unterricht. Wie lange er und in welchen Jahren er in diesen beiden Stellungen tätig gewesen war, ist noch nicht ermittelt. Im Jahre 1798 ist er in den juristischen Verwaltungsdienst beim Amtsgericht Glogau hinübergewechselt und in dieser Laufbahn auch verblieben. Im Jahre 1813 ging er mit dem Oberlandesgericht nach Liegnitz und kam nach Beendigung der Befreiungskriege nach Glogau wieder zurück. Im Jahre 1819 wurde er an das Oberlandesgericht nach Breslau versetzt, wo er bis zu seinem Lebensende geblieben ist. Es ist anzunehmen, dass die Not der damaligen Zeit ihm veranlasst hatte, seinen Beruf zu wechseln und dass ihm als Pfarrerssohn aber die Tätigkeit als Pfarrer seiner inneren Einstellung näher gelegen hätte, als seine Tätigkeit beim Gericht, durch die er den Titel und Stellung eines Hofrates erlangt hat.
 
Seiner ausschließlich sitzenden Berufstätigkeit ist es wohl zuzuschreiben, dass er viel kränkelte und während seiner letzten fünf bis sechs Lebensjahre von einem sehr schmerzhaften Blasenleiden befallen gewesen ist. Die Ursache seines Todes ist aber "Nervenfieber" gewesen, worunter man damals Typhus verstand. Er hatte nur ein alter von 59 ¾ Jahren erreicht, als er am 5. Oktober 1829 starb. Er war also fast ebenso jung wie sein Vater dahingegangen.
 
Am 1801 hatte unser Urgroßvater die erst achtzehnjährige Julie Treutler geheiratet, die Tochter des Kammergerichtssekretärs Ehrenfried Treutler, der ein Sohn war des Erb- und Gerichtsherrn Ehrenfried Treutler auf Pohlsdorf und Neudeck in Schlesien und der Sophie, Louise, geb. Woyd, des Oberbürgermeisters von Groß-Glogau Christian Woyd ältesten Tochter.
 
Unsere Urgroßmutter entstammte einer sehr wohlhabenden und kinderreichen Familie. Von ihren sieben Brüdern war einer Referendar in der Schlacht von Belle Alliance gefallen. Ein anderer war Justizrat und Gutsbesitzer. Eine ihrer 4 Schwestern war an den Major von Krenski verheiratet.
 
Ihre Schwester Mathilde habe ich als neunjähriger Junge einige Male bei meinem Großonkel Otto Sommerbrodt in deren 84. Lebensjahre gesehen und gesprochen. Ich entsinne mich noch heute deutlich der gütigen, stark beleibten, aber noch rüstigen Dame und höre noch ihre auffallend tiefe, sonore Stimme, wenn sie mir jedes Mal erzählte, dass sie die Schwester meiner so früh verstorbenen Urgroßmutter sei. Ich verband mit dieser Urgroßtante den Begriff einer Urgroßmutter jeglicher Art und stellte mir dadurch auch vor, dass meine eigene Urgroßmutter ebenso ausgesehen haben müsse wie diese Urtante Mathilde. Aber wie andere hat ihr jüngster Sohn, mein Großonkel Julius, ihr Bild in seinen hinterlassenen Schriftsachen gezeichnet!
 
"Meine Mutter war eine überaus zarte, liebliche Erscheinung, fein und anmutig!
Sie war voller Herzensgüte.
Sie litt zwar sehr oft an Kopfschmerzen, war aber nie bettlägrig."
 
Ferner:
 
"Als ich am 10. November 1831 früh 8 Uhr aus meinem Colleg nach Hause kam, begegnete ich auf der Treppe zu unserer Wohnung Dr. Lachel. Er konnte mir nur noch schonend sagen, dass meine Mutter, ohne dass jemand es gemerkt und gewusst habe, vom Schlage gerührt und jetzt bereits gestorben sei."
 
Ferner:
 
"Die Eltern meiner Mutter waren sehr wohlhabend. Woher ihr beträchtliches Vermögen stammt, sit nicht zu ermitteln gewesen.
Da ich beide Eltern so zeitig verlor, als mein Vater starb, war ich 15 Jahre alt, bei meiner Mutter Tod erst 18 Jahre, sind mir dergleichen Äußerlichkeiten von geringem Interesse gewesen."
 
Die Herzensgüte meiner Urgroßmutter Julie ist zum köstlichen Erbgut all ihrer fünf Kinder geworden. Durch diese wurden ihre anderen hochwertigen charakterlichen und geistigen Eigenschaften nur noch wertvoller. Mit 26 - 24 - 22 - 20 - 18 Jahren bereits verwaist und ganz auf sich selbst gestellt, ehrten sie durch die erreichten hohen, sie voll befriedigenden Lebensstellungen ihre Eltern gewiss am schönsten.
 
Meine Urgroßeltern gehörten beide der Reformierten Kirche an.
Sie wohnten in Breslau erst auf der Reuschenstrasse, nahe der Elisabeth Kirche, zuletzt Ritterplatz, in der Nähe des Oberlandesgerichts.
 
Sie liegen in Breslau auf dem Alten Friedhof der Reformierten Gemeinde bestattet.
Als gemeinsame Grabinschrift hatten sie sich gewählt:
 
Heinrich Sommerbrodt
Hofrat
 
für die Erde geboren
den 21. Januar 1770
 
für den Himmel geboren
den 5. Oktober 1829
 
Julie Sommerbrodt
Geb. Treutler
 
für die Erde geboren
den 21. September 1783
 
für den Himmel geboren
den 10. November 1831
 
Der Friedhof der ev. Reform. Gemeinde befindet sich in Breslau an der Fischer- und Lorenzgasse. Das Grab der Urgroßeltern, an der "oberen Mauer" gelegen war 1890 noch vorhanden. Auf meine Anfrage im Jahre 1938 teilte mir die Friedhofsverwaltung aber mit, dass das Grab nicht mehr auffindbar und eingeebnet sei.
 
1717 - 1778
 
Mein Ur-Urgroßvater Wenzeslaus Litochleb wurde am 21. Oktober 1717 in Moraschitz in Böhmen geboren. Er ist des Mühlenbesitzers und Meisters Krystian Litochleb und seiner Ehefrau Dorothea vierter Sohn vor noch weiteren zwei Schwestern.
 
Wenzeslaus Litochleb ist der letzte Repräsentant, der vor ihm und mir ihm in Böhmen bis zur Auswanderung im Jahre 1732 ansässig gewesenen Angehörigen unseres Familienstammes. Er ist der letzte Träger unseres böhmischen Namens Litochleb. Er starb in Peitz 1778 als Oberpfarrer. Doch bevor auf ihn näher eingegangen sei, soll folgendes berichtet werden:
 
Unsere Ahnenreihe reicht von meinem Ur-Urgroßvater durch die Zeiten des Dreißigjährigen Krieges bis zum Jahre 1416 hinauf.
 
Der älteste bis jetzt bekannte Ahn ist:
 
Waklaw (Wenzel) Litochleb:
 
Er ist 1416 Ratsherr in Prag und 1420 der Bürgermeister von Prag. Aber die Litochleb werden bereits 1380 als eine Ratsherrenfamilie mit ansehnlichem Grundbesitz in und bei Prag, in Litochleb, erwähnt.
Die erste Namensgebung von ihnen ist voraussichtlich 1350 nach diesem Dorf Litochleby erfolgt, da in dieser Gegend in diesem Jahr die Familiennamen erstmals fest werden.
 
Noch heute 1949 heißt ein Vorort von Prag "Litochleb" dort wo sich einst das Gut der Litochlebs der Sommerbrodt befunden hat.
 
Johannes Litochleb
 
1534, geb. in Chrudium.
Er ist baccalaureus artium (Dr. philos.) gewesen.
 
Diesem folgen:
 
Krystian Litochleb
Geb. in Chrudim 1554
 
Johannes Litochleb
Geb. in Chrudium 1571
 
Jacob Litochleb
Geb. in Pardubitz 1592
 
Joseph Litochleb
Geb. in Drenie bei Pardub 1620
 
Johannes Litochleb
Geb. in Pardubitz 1648
1 Sohn, 3 Töchter am 24.6.
 
Krystian Litochleb
Geb. in Pardubitz 1679
Mühlenbesitzer und Meister,
Agitator für seine evangel. Glaubensbrüder in Böhmen.
Gest. in Berlin (?) 1742 (?)
Seine Ehefrau Dorothee ist in gleicher Weise tätig gewesen und wird als eine "Glaubensheldin" bezeichnet.
4 Söhne, 2 Töchter.
 
Wenseslaus Litochleb
Geb. in Morachitz 21.10.1717
Best. in Peitz i. L. 11.11.1778
 
1416
 
Über unseren ältesten Ahnherrn Waclaw Litochleb, Bürgermeister von Prag und über seine Zeit hat mein Bruder Walter Bedeutsames ermitteln können.
Seinen Briefbericht hierüber, den er mir am 22. März 1915 nach Vauquois am Argonnenwald in meinen Gefechtsstand geschrieben hat, lautet in wörtlicher Wiedergabe wie folgt:
 
Frankfurt/M. 22.3.1915
 
"Lieber alter Bruder!
 
Ich will heute einmal gar nicht vom Kriege sprechen und Dir wie im tiefsten Frieden berichten über eine Arbeit, die ich nach dem Abendessen als Ablenkung zur Beruhigung an manchen Tagen der Woche treibe.
Ich übersetzte nämlich aus dem czechischen und bin durch fortgesetzte Übung dazu gekommen, am Abend schon eine halbe Druckseite fertig zu machen.
 
Nachdem ich die Geschichte der Böhmischen Auswanderung der Jahre 1730 - 1740 nach Berlin und Umgebung mit viel Interessantem für unsere Familie fertig hatte, begann ich auf gut Glück eine große Geschichte der Stadt Prag im Mittelalter durchzustudieren.
 
Die Ausbeute der zwölf Bände war hochinteressant. Ich wusste aus einem anderen czechischen Werke schon seit zwei Jahren, dass Vorfahren von uns Litochleb in Prag ansässig gewesen waren und dass ein kleiner Ort dicht bei Prag in dieser Zeit Litochleby heißt.
 
Die Litochleb tauchen gegen 1380 in den Urkunden auf, wozu man bedenken muss, dass etwa um 1350 erst die Familiennamen in dieser Gegend fest wurden, im Rheinland gegen 1300 und in Schlesien etwa 1400.
 
Bekannt ist mir, dass die Litochleb großen Grundbesitz hatten, neu jedoch, dass der eine, Waclaw, d.i. Wenzel Litochleb in der Zeit von 1416 an Ratsherr in Prag ist. Im Jahre 1420 ist er sogar der Bürgermeister von Prag. Auch als vorsitzender eines Ausschusses wird er erwähnt und als Vorsitzender des "Gerichts der sechs Herren" und auch ein Richterspruch ist von ihm erhalten.
 
Das Interessanteste ist aber folgendes:
 
Vergegenwärtige Dir die Zeitverhältnisse. In Böhmen war um das Jahr 1400 der Vorläufer Luthers, Johann Huss aufgetreten. Wie alle religiösen Fragen zu jener Zeit, und auch heute noch, denke an die englische Mission und an die russische Kirche in Galizien, war die Bewegung eine Macht und politische Frage. Das hochkultivierte Böhmen jener Zeit, Prag ist die älteste Universität nach Paris, wollte geistig nicht mehr von Rom abhängig und der hussitische Adel und die Bürgerschaft der Städte wollte sich mehr oder weniger vom König unabhängig machen, das heißt also, selbst die Macht ausüben.
 
Im Jahre 1415 war Huss, dem der Kaiser freies Geleit versprochen hatte, auf dem Konsil zu Konstanz, da der Kaiser sein Wort nicht gehalten, verbrannt worden.
Darauf ungeheure Erregung in Böhmen.
Der Sitz der Erregung war natürlich Prag und die dortige Universität.
Die Sache steigert sich und 1420 ist in Prag Revolution. Die Klöster werden geplündert, der katholische Gottesdienst wird abgeschafft, die Truppen des Königs vertrieben, die Bewegung auf das Land hinausgetragen, wo sie bei dem Adel lebhaften Beifall fand, und der König Siegesmund, der zugleich Deutscher Kaiser war, zu Zugeständnissen genötigt.
 
Und unter den vier bedeutendsten Vertretern dieser Bewegung war der eine, Waclaw Litochleb, der Bürgermeister von Prag, unser Ahn!
Auf dem ansteigenden Hängen der Burg von Prag, dem Haradschin, bekommt er aus dem dort befindlichen Klostergut einen Weingarten.
 
Im Jahr 1426 wird seine Witwe Dorothee erwähnt.
 
Bis 1436 tobten die Hussittenkriege, die Hussitten von Naumburg, bis sie schließlich das Abendmahl mit dem Kelche zugestanden bekamen.
Unterdrückt wurden sie erst wieder, als nach der verlorenen Schlacht am Weissen Berge, 1620, die Gegenreformation begann.
 
Die geistigen Nachfolger der Husitten sind die "Böhmischen Brüder" und die "Herrenhüter".
 
Da nun aber in den Jahrzehnten der furchtbaren Glaubensverfolgung niemand zu einem "Böhmischen Bruder" geworden sein wird, der es nicht schon vorher war, so können wir sicher damit rechnen, dass unsere Familie, die 1732 als "Böhmische Brüder" in Preußen eingewandert ist, seit dem Jahre 1400, also seit länger als 500 Jahren, also 120 Jahre VOR Luther, nicht mehr katholisch hat sein wollen!
 
Es werden wenige Familien sein, die einen solchen Stammbaum haben.
Deine drei Jungen haben ihn fortzusetzen!
 
Und sonst alles denkbare Gute!
 
Herzinnigst Dein Walter."
 
Walters großer Verdienst wird es immer sein und bleiben, das er unsere Familiengeschichte, die bis dahin nur bis 1679 bis zum Vater meines Ur-Urgroßvaters, also bis Krystian Litochleb Mühlenbesitzer und Meister in Pardubitz, hinaufreichte, bis ins Jahr 1416 uns offenkundig gemacht hat.
 
Mit Waclaw Litochleb, dem Bürgermeister von Prag, fand sie zunächst im Februar 1914 ihren Abschluss. Die Berufung Walters in die leitende Stellung an der Frankfurter Hypothekenbank, die Zeiten dann des ersten Weltkrieges mit dem darauf folgendem politischen und wirtschaftlichen Wiederbruch Deutschlands und schließlich die Vorahnung und dann die Gewissheit seiner schweren Erkrankung haben Walter nicht mehr die Zeit und die innere Ruhe gegeben, seine Familienforschungen weiter fortzuführen.
 
Meine versuchte Fühlungnahme mit den Pfarrämtern der Czecho-Slowakei, dem Produkt des Versailler Diktates, scheiterte jedes Mal wegen der feindlichen negativen Einstellung seiner Pfaffen gegen alles Deutsche.
 
Nach Beendigung des zweiten Weltkrieges muss es Pflicht und Freude sein, die Geschichte der Litochleb aus den Jahren von 1679 hinauf bis 1380 weiter auszubauen und womöglich noch darüber hinaus neu zu erforschen.
 
Als Wegweiser hierzu mögen Walters letzte Ermittlungen dienen.
Er schreibt:
 
Wir hießen ursprünglich Litochleb. Diese Wort ist zusammengesetzt aus dem Verbum "litojo" - sparen und aus dem Hauptwort "Chleb" - Brot. Das Verbum litojo hat auch den Nebenbegriff: geizig sein.
"Litochleb" ist also einer, der mit seinem Brot (Getreide) geizt und spart, der kargt, der ein Kärger ist.
Die Verdeutschung unseres Namens hätte mithin "Kärger" lauten müssen, oder auch Kargbrodt".
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die Kenntnis der böhmischen Sprache allmählich verloren geht, da taucht neben der Schreibweise "Litochleb", oft auf derselben Seite durcheinandergehend, auch die Schreibweise "Letochleb" auf. "Leto" aber heißt - Sommer, sodass zwischen den Jahren 1780 - 1810 aus Leto - Sommer und Chleb - Brot der Name Sommerbrodt entsteht und sich bei uns und bei der Berliner Vetternlinie auch durchsetzt und angenommen wird."
 
(Ich bemerke hierzu, dass die Buchstaben "i und e" in böhmischen Familiennamen öfters gleichzeitig nebeneinander gebraucht wurden. Vergl. Geschichte der Stadt Prag. Familienarchiv.)
 
Walter stellte ferner fest:
"Bis vor etwa 100 Jahren hieß ein kleiner, jetzt längst eingemeindeter Ort bei Prag "Litochleby".
Ob unsere Familie den Namen von diesem Ort hat, oder umgekehrt, ist mir nicht sicher. (meist ersteres zutreffend.)
Um 1380 sind die Liochlebs eine Ratsherrenfamilie mit ansehnlichem Grundbesitz in und um Prag.
Dieser Prager Zweig, der hussitisch war, muss unter Verlust seines Vermögens Prag verlassen, als nach der Schlacht am Weissen Berge, am 8.11.1620, im Dreißigjährigen Krieg die Gegenrevolution begann.
Auch ein anderer Zweig muss Prag verlassen.
Diese Seitenlinie siedelt sich in Pardubitz an (Vergl. Stammbaum unserer Familie Litochleb-Sommerbrodt).
Als dann die "Böhmischen Brüder", die geistigen Nachkommen der Hussiten, immer schlimmer bedrückt werden, wandern sie etwa zwischen 1725 - 1732 aus.
Rund 2000 Böhmen nimmt der Preuss. König in der Mark Brandenburg auf und siedelt sie in den dort gegründeten böhmischen Kolonien Rixdorf bei Berlin und Nowawes bei Potsdam an.
Nach Rixdorf kommen zunächst alle Mitglieder unserer Vetternlinie Litochleb und auch unser Krystian Litochleb.
 
Die Angehörigen der Vetternlinie bleiben in Rixdorf und in Berlin und gewinnen bald Wohlstand. Dieser ältere Zweig starb 1871 mit Auguste Sommerbrodt, der Frau des bekannten Volkswirtschaftlers Prince-Smits aus.
 
Ein Angehöriger des jüngeren Zweiges, der Sohn unseres Krystian Litochleb, studierte in Halle Theologie. Es ist mein Ur-Urgroßvater Wenzeslaus Litochleb. Er wurde von Friedrich dem Großen zum Geistlichen der neugegründeten böhmischen Kolonie Nowawes bei Potsdam ernannt. Er starb in Peitz als Superintendant und Oberpfarrer. In diese ehemalige kl. Festung in der niederlausitz ist er deswegen berufen worden, wie ich aus den Aktien des Konsistoriums festgestellt habe, weil er mit seinen böhmischen Sprachkenntnissen die Seelsorge der in und um Peitz wohnenden, sprachlich mit dem Böhmen verwandten Wenden leicht ausführen konnte."
 
Gez. Walter Sommerbrodt
Februar 1914
 
1679 - ????
 
Obige Ausführungen seien nun weiter ausgebaut.
Zuerst sei über Krystian Litochleb, meines Ur-Urgroßvaters Wenzeslaus Litochleb Vater berichtet, der 24.6.1679 in Pardubitz geboren war.
 
Krystian Litochleb war auch einer der aufrechten, charakterstarken Männer, die sich dem geistigen Zwang und Druck nicht fügen wollten und konnten, der ihres evangelischen Glaubens wegen auf sie ausgeübt wurde, damit sie ihn verließen und katholisch würden. Über den Böhmen hatten die Greuel des dreißigjährigen Krieges, da man "mit Hunden sie zur Messe gehetzt", hatte die Vergewaltigungen eines vollen Jahrhunderts, da man mit unerbittlicher Konsequenz alle evangelischen Regungen zu ersticken suchte, und sie bis aufs Blut verfolgte, wie schwerstes Unheil gelastet.
 
Krystian Letochleb, der Mühlenbesitzer und Meister, hatte den Mut und optimistische Charakterstärke, sich gegen den von den Jesuiten ausgeübten Terror nicht nur innerhalb seiner eigenen Familie aufzulehnen, sondern auch agitorische gegen ihn aufzutreten. In gleicher Weise ist seine glaubensstarke Ehefrau Dorothee, tätig, die von ihren Zeitgenossen und in der Chronik jener Zeiten als eine "Glaubensheldin" bezeichnet worden ist.
 
Bei der Taufe unserer Dorothee, am 23.4.1903 knüpfte hieran in seiner Tischrede mein Bruder Heinz an. Auch sie ist dann eine Heldin allzeit gewesen, nämlich der Treue zu allen von ihr übernommenen Pflichten und Aufgaben.
 
Wo der Grundbesitz von Meister Krystian gelegen hat, bei seiner Geburtsstadt Pardubitz oder bei Leitomischel, der Gegend seiner Passion, steht nicht fest. Doch ist letzteres anzunehmen. Über seine Erlebnisse hierbei möge Krystian Litochleb selbst zu Worte kommen. (Auszug aus dem Buch: "Geschichte der Weberkolonie Nowawes" von Zichgraf.)
 
Der Vater Krystian unseres miteingewanderten ersten Predigers Wenzeslaus Letochleb hat folgende Begebenheit, die ihm widerfahren, berichtet:
 
"In der Gegend von Leitomischel kam ein Jesuit mit dem Hauptmann und examinierte die Leute, wo der evang. Prediger gewesen sei. Da sie es aber nicht wussten, liess mann uns allen die Hände nahe bei den Fäusten binden, dann musste sich männiglich bücken und die Ellenbogen unter die Kniee thun. Sie aber (die Jesuiten) steckten zwischen die Ellenbogen und die Kniee einen Prügel und mussten zwei Männer mit dicken Ochsenziemern zuschlagen, bis die Haut entzwei sprang, indem jeder 120 Streiche bekam.
Darauf wurden wir an einen Klotz geschlossen, und schickte der Graf von Trautmannsdorf wieder den Jesuiten und liess dieser uns noch mehr schlagen denn zuvor, also dass Hemd und Haut ganz zerschlagen und alles untereinander gemenget war.
Einer Weibesperson zerschlugen sie nicht nur den Rücken, sondern peitschten auch ihre Brust, bis sie Blut trief.
 
Endlich wurde ich selbst mit mehreren Anderen zum dritten Male auf solche unmenschliche Art behandelt und zerprügelt, also dass das ganze Hemd zerschlagen war.
 
Als ich nun nach dieser Exekution halb todt dalag, sprach der Hauptmann zu mir: "Warum lässt du Dich martern, werde doch katholisch! Würde ich doch lieber ein Türk werden, als solche Peinigung erdulden!"
Ich aber rief: "O Herr Gott, verlass mich nicht!"
Darauf sie mich verlachten und verspotteten. Auch schlossen sie mich wiederum an einen Klotz, mit Schellen an den Händen und Eisen an den Füssen, und steckten mich in ein sieben Ellen tiefes Loch, wo ich sieben Tage und sieben Nächte schmachten musste.
Zuletzt aber that man uns alle unter die Soldaten und mussten wir dort eine strenge Zucht lernen.
Ich aber erkaufte mir meinen Abschied, nahm Weib und Kind und ging nach Sachsen und dannen nach Nowawes."
 
(Ich bemerke hierzu:
In der Festpredigt, gehalten zu Nowawes, den 24.5.1903 aus Anlass der 150 jährigen Jubelfeier der dortigen Kirche in Gegenwart des Kronprinzen als Vertreter des Kaisers wird hierauf, auf Krystians Passion, besonders hingewiesen.)
 
Krystian war 53 Jahre alt, als er mit seiner Ehefrau Dorothee und mit seinen sechs Kindern im Jahre 1732 in Preußen unter den Königen Friedrich Wilhelm I und Friedrich d. Gr. Eine bessere Heimat suchte und diese erst in Berlin-Rixdorf und nach Fertigstellung der Kolonistenhäuser dann in Nowawes auch fand. Von seinen Kindern war Jakob 20 Jahre alt, Balthasar 19, Johann 17, Wenzeslaus 15, Dorothea 13 und Juliane 12 Jahre alt, als sie in die Mark Brandenburg einwanderten.
 
Krystian nahm sich seiner "Böhmischen Brüder" nicht nur in der gemeinsamen neuen Heimat an, sondern betreute von hier aus auch die in Böhmen zurückgebliebenen noch weiter. Im Jahre 1735 übergibt er dem "Corpus Evangelikorum" in Regensburg durch seinen Bruder Johann ein Intercessionsschreiben zu Gunsten der bedrängten Evangelischen in Böhmen.
 
Weitere angaben über das Wirken und Leben Krystians und seiner tapferen, glaubensstarken Frau Dorothee sind in keiner Chronik zu finden gewesen, auch weisen die Kirchenbücher weder seinen noch seiner Frau Dorothee Tod auf, sodass angenommen werden kann, dass er außerhalb von Berlin oder Nowawes in einem zunächst uns noch unbekannten Ort erfolgt ist.
 
Welches heldenhafte Beispiel von Glaubens- und Charakterstärke hat Krystian seinen Böhmischen Glaubensbrüdern durch das Ertragen seines Martyriums gegeben! Ein wie wertvolles Erbgut bester Eigenschaften offenbarte sich in ihm!
 
In unserem Familienbesitz befindet sich als altes Erbe ein Bruchstück eines czechischen Psalters aus dem 15. Jahrhundert. Die Schrift, auf 24 Pergamentblättern, umfasst Psalm 102.
Er ist zum Schicksalspsalm Krystian Litochlebs geworden.
 
"Mein Gebein klebt an meinem Fleisch vor Heulen und Seufzen.
Täglich schmähen mich meine Feinde.
Lass mein Schreien zu Dir kommen.
Verbirg Dein Antlitz nicht vor mir in der Not.
Doch Du wendest Dich zum Gebet der Verlassenen und verschmähst ihr Gebot nicht."
 
Krystian Litochleb, mein Ur-Ur-Urgroßvater, hat aus seiner alten Bibel, die er sehr wahrscheinlich schon von seinen Ahnen übernommen hatte, diesen Psalm herausgetrennt und ihn 1732 mit sich in die neue Heimat genommen.
 
Und dann kamen diese vierundzwanzig Pergamentblätter immer wieder vom Vater auf den Sohn, bis heute!
 
Unser Schicksalspsalm war aber auch zum Schicksalspsalm aller anderen böhmischen Exulanten geworden und keiner hat ihn seiner Gemeinde besser interpretieren können als Wenzeslaus Litochleb, mein Ur-Urgroßvater, der Sohn Krystians, der erste Pfarrer der in Nowawes sich wiedergefunden gleichfalls ihres evangelischen Glaubens wegen gemarterten, aus der Heimat, von Gut und Hof vertriebenen Böhmen.
 
Anmerkung:
Unsere Pergamentblätter hat Walter 1912 dem Professor für Sprachkunde an der Universität Breslau, Paul Diels, zur Begutachtung übergeben wollen. Nach Walters Tod erinnerte mich Prof. D. an die für unsere Familie und für weitere Kreise sehr interessanten Feststellungen.
 
Prof. Diels stellte fest:
"Die Schrift gehört in die erste Hälfte des XV. Jahrhunderts, um 1440, so auch nach Angabe drei (namentlich genannter) Sachverständiger.
Die Orthographie zeigt die des XV. Jahrhunderts, eine Verbindung älterer und Hussischer Schreibweise. Vom Text kann nur gesagt werden, dass er den Übersetzungen des XIV. Jahrhunderts fern steht; seine nächsten Verwandten dürfte er an den czechischen Bibeln seiner eigenen Zeit, des XV. Jahrhunderts, haben."
 
Prof. D. hat die Beschreibung unserer Handschrift in einem Sonderdruck veröffentlicht, ihren Text abdrucken lassen und besonders darauf hingewiesen, dass es sich hier um den ersten vollständig erhaltenen Psalm aus der Zeit von Hus handelt.
(Unseren Psalm halte ich in der eis. Kassette des Archivs aufbewahrt.)
 
1717 - 1778
 
Lassen wir nunmehr unsere Gedanken noch eingehender zu meinem Ur-Urgroßvater Wenzeslaus Litochleb zurückgehen.
 
Wir sehen ihn vor uns auf der Kanzel als "eines ehrlichen Emigranten Sohn" stehen, wie er als junger Prediger aus seines Vaters Pergamentblättern den armen Webern in Nowawes in ihrer böhmischen Sprache einen Abschnitt aus dem 102. Psalm vorliest und bewegten Herzens erläutert.
Nachdem er ab 1743 in Halle Theologie studiert, hatte er 1753 die Pfarrerstelle in Nowawes, "dem Emigrantendorf, das nach Willen Friedrich d. Gr." Auf der wüstesten Stelle des Märkischen Sandes, zwischen Kiefern" errichtet worden war, erhalten.
"Die Häuser sind äußerst ärmlich. Die Wände außen und innen nur mit Lehm verputzt, die Tür nur mit Holzriegel versehen. Der Flur ist mit faustgroßen Feldsteinen belegt. Von gleicher Beschaffenheit ist auch das Pfarrhaus."
Und doch genügt ihm und seiner jungen Frau Charlotte, des Oberamtsmanns Niete Töchterlein, aus Blankenfelde bei Berlin, Ort und Unterkunft, um glücklich zu sein. Am 6.11.1754 hat die Hochzeit stattgefunden. Während der zwölf Jahre seiner Amtstätigkeit in Nowawes werden ihm hier 2 Töchter und ein Sohn geboren, Dorothea, Christian, beide genannt nach ihren Großeltern und Marie-Elisabeth.
 
Hören wir, was sein Amtsnachfolger über ihn berichtet hat:
"Einen Beweis seiner Demuth, seiner Genügsamkeit und seiner Liebe zur Gemeinde gab er damit, dass er es sich gefallen ließ, von seinen Gemeindemitgliedern anfänglich beköstigt zu werden und deswegen täglich oder wöchentlich mittags ein Tischgenosse der einen oder der anderen Familie, der Reihe nach, zu sein.
Ungeachtet dessen hatte er aber in der Folge manchen Verdruss, weshalb er sich auch entschloss, sein Amt in Nowawes aufzugeben. Das fehlende zu seinem Auskommen. Von 200 Thalern, wurde ihm ebenfalls anfänglich durch Kollekten zusammen gebracht, deren zu bestimmten Zeiten auch noch sein Nachfolger genoss.
Seiner Verdienste um die Kolonie sind mancherlei, denn durch seinen achtungswerten Charakter hat er der Gemeinde manchen Vorteil verschafft und zu manchen Rechten verholfen, die sich seine Bescheidenheit niemals selbst zugeeignet hat. Arme und Witwen nahmen ihre Zuflucht zu ihm und was er vermochte, das tat er für sie."
 
Das Staatsarchiv in Berlin schreibt:
"Der bisher im Amt in Nowawes gestandene Prediger Litochleb hat bei seiner Gemeinde große Unruhe und Widerwärtigkeiten.
Weil es aber leicht an den Predigern fehlen möchte, die böhmisch predigen können, so würde es schade sein, wenn er von seiner Kolonie ganz abgehen möchte."
 
Aber nicht nur durch die "aufsässigen, hinterhältigen und zanksüchtigen Gemeindemitglieder und Dörfler", deren erster Ortsvorsteher Wenzeslaus Litochleb war, hatte er großen Ärger und Verdruss zu ertragen, noch schlimmeres hatte er durchzumachen, als 1760 die Russen Ort und Kirche plündern und alles was Wert hatte, aus den Häusern rauben und verschleppen.
Zu dieser Zeit waren im Ort 155 Kolonistenfamilien mit 681 Seelen. (Heute leben dort 30.000 Einwohner mit viel Industrie.)
 
Vom 22. November 1764 ab ist mein Ur-Urgroßvater nach Peitz in der Lausitz versetzt unter Ernennung zum Oberpfarrer und unter gleichzeitiger Übertragung der Geschäfte des Superintendenten von Cottbus. Seine Berufung dorthin erfolgte hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt, dass in dortiger Gegend die den Böhmen sprachverwandten Wenden angesessen sind und durch den der böhmischen Sprache mächtigen Oberpfarrer am besten betreut werden konnten.
 
Bei seiner Berufung nach Peitz war er 47 Jahre alt, seine jüngste Tochter Marie-Elisabeth erst 5 Monate.
Fünf Jahre darauf, am 21. Januar 1770 wird ihm ein zweiter Sohn, Heinrich, Friedrich, Wilhelm, Balthasar geboren, der mein Urgroßvater geworden ist.
 
Am 12. November 1778 stirbt mein Ur-Urgroßvater im Alter von 60 Jahren. Auf dem Friedhof an seiner Kirche in Peitz, nächst dem Portal, findet er seine letzte Ruhestätte. Er hinterließ, wie im Kirchenbuch zu lesen steht: " eine Witwe von 45 Jahren, mit unerzogenen Kindern im Alter von 21 - 19 - 14 - 8 Jahren.