Prag  1965
 
 
 
 
Wir sind in Prag, im Jahr 1965.
 
Der Mythos der alten Stadt im Osten, ein schneereicher Winter und das starre komunistische Regime mit der Dominanz von Militärfahrzeugen und Soldaten an allen wichtigen Stellen innerhalb der Stadt führten uns jungen Studenten die andere Welt hinter dem "Eisernen Vorhang" deutlich vor Augen. Wenn wir jedoch über Armut und Unterdrückung hinwegsahen, konnten wir uns an Erlebnissen und Eindrücken erfreuen, die durchaus schön waren und die einem großen, pittoreskem Theater glichen mit den alten gotischen Häusern, dunklen Gassen und musealen Vorkriegsfahrzeugen. Die gasbetriebenen Straßenlaternen flackerten und warfen ein müdes Licht auf eisglatte und schneebedeckte Straßen und Wege und ließen uns die Kälte noch frostiger spüren. Die wenigen Autos knirschten leise und langsam über die geschlossene Schneedecke mit einem zittrigen, gelben Licht aus großen, runden Scheinwerfern.  
 
Beeindruckend war natürlich der Hradschin mit dem Blick über die Moldau und dem rot-braun-gesprenkelten Dächermeer der Stadt, die Karlsbrücke und das Rathaus mit dem Uhrturm. Dort war das eigentliche Ziel der Reise, den Ort aufzusuchen, wo der frühe Vorfahr der Familie Sommerbrodt, Waklaw Litochleb, als Prager Bürgermeister anno Domini 1420 residierte. Geschichte und Familienchronik in enger Verbundenheit.
 
Hier, im Rathaus, fanden sich auch die Aufzeichnungen über den Ort "Litochlebbi", ein vergilbtes Dokument in einem Berg von Aktenstapeln. Ein - dank Unterstützung von Prager Freunden - recht hilfsbereiter Verwaltungsangestellter breitete Schriftstücke und alte Papiere aus und zeigte schließlich auf eine Gemarkung im Norden Prag´s mit der Flurbezeichnung "Litochlebbi" , mit schwarzer Tinte und feiner Schrift auf das Blatt gezeichnet. Gerne hätte man einen Beweis mitgenommen, aber wie? Einen Kopierer gab es nicht im Rathaus, wahrscheinlich gab es auch in ganz Prag keinen. Aber allein das Dokument mit dem Namen gesehen zu haben, war eine große Freude und ein tiefes Erlebnis.
 
Abends saß man bei den Freunden zu Hause in der Wohnküche vor dem warmen Herd bei einem kräftigen Abendessen. Getrunken wurde Bier, frisch gezapft in der Kneipe unten an der Ecke und transportiert in einem großen Zinnkrug mit wackligem Deckel, Inhalt gute zwei Liter. Die Küche war warm, aber Flur, Treppenhaus und Wohnzimmer waren ungeheizt und draußen waren Schnee und Frost. Eiskristalle überzogen die dünnen Fensterscheiben, keine aufgemalte winterliche Dekoration, sondern raue und kalte Wirklichkeit eines Prager Winter´s, und gesprochen wurde viel über den "Goldenen Westen", den man natürlich noch nie gesehen hatte.
 
 
Achim Sommerbrodt
 
 
 
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