Nowawes
 
 
 
 
Seit langer Zeit war mir aus den Quellen der Familiengeschichte bekannt, dass unser Urahn Wenzeslaus Litochleb der erste Prediger der unter Friedrich dem Großen 1753 erbauten Friedrichskirche in Nowawes war.
Nach des Königs Willen wurde dieses Emigrantendorf auf der Kargheit des märkischen Sandes gebaut, Zuflucht sollte es den böhmischen Brüdern geben, die wegen ihres religiösen Glaubens aus der Heimat Böhmen vertrieben worden waren. Vorwiegend Weber besiedelten das ärmliche Dorf, auch der Vater von Wenzeslaus, Krystian, fand hier mit seiner Frau Dorothea eine neue Heimat. Er war es auch, der seinem Sohn Wenzeslaus ein Bruchstück eines czechischen Psalters aus dem l5.Jahrhundert hinterließ. 24 Pergamentblätter, herausgetrennt aus einer alten Bibel mit einem schicksalsträchtigen Psalm, dessen Inhalt für die Verfolgten von großer Bedeutung war.

Bis zum heutigen Tag ist dieser Psalm in unserem Familienbesitz!

 

Aber zurück zu Wenzeslaus.

Am 24.10.175l schreibt Friedrich der Große aus Potsdam an seinen Staatsminister von Danckelmann folgendes:

 "Mein lieber Geheimer Etatminister Freyherr von Danckelmann, nachdem ich hier bey Potsdam ein besonderes Etablissement von Böhmischen Colonisten gemachet, auch vor solche ein eignes Dorff erbauen laßen, dieselbe aber bey mir die Nothwendigkeit eines böhmischen ordinierten Predigers, welcher die actus ministeriales verrichten kann, vorgestellt unter den Anführern, dass die meisten von ihnen der teutschen Sprache nicht mächtig wären, auch hierzu um einen Candidaten Theologiae, nahmens LETOCHLEB, welcher von den böhmischen Predigern zu Berlin mit einen guten Zeugniss seines Lebens und Wandelns und übrigen capacite versehen ist, gebethen habe.Als habe ich deren Gesuch hierunter stattgegeben und will, dass Ihr alsofort und sonder einigen Zeitverlust die nöthige Verfügung thun sollet, dass gedachter LETOCLEB sogleich ordentlich vociret, examinieret und zum Böhmischen Prediger bey gedachter böhmischer Gemeinde ordiniret werden müsste.Ihr habet Euch hiernach zu achten ind ich bin Euer wohl affectionirter König Friedrich."

 

Die Familiengeschichte lehrt uns, dass Wenzeslaus das Amt als Pfarrer bekommen hat, allerdings gab es 1751 weder Kirche noch Pfarrhaus.Die Kirche wurde 1752/53 nach Plänen des holländischen Baumeisters Jan Boumann errichtet, am 6. Mai 1753 geweiht und unser Urahn wurde offiziell als erster Prediger eingesetzt. Das Pfarrhaus wurde etwa zeitgleich fertig, nahm aber unter den äusserst ärmlichen Weberhäusern eine deutliche Sonderstellung ein, zumindest was den Grundriss betraf. Obwohl im Gegensatz zu den anderen Kolonistenhäusern sechsachsig gebaut, muss doch das Innere sehr spartanisch gewesen sein. Aussen-und Innenwände waren nur mit Lehm verputzt, der Boden mit faustgrossen Feldsteinen belegt. Bauherr war Friedrich der Grosse, Ersteigentümer war unser Urahn Wenzeslaus Litochleb, der hier 12 Jahre mit seiner Ehefrau Charlotte Niete lebte, wirkte und drei Kinder bekam. 1765 erhielt er die Ernennung zum Oberpfarrer in Peitz und verliess mit seiner Familie Nowawes.

 

Der Name "Nowawes" war mir seit meiner Kindheit vertraut, zu meiner Schande muss ich aber gestehen, dass ich nicht wusste, dass es 1938 mit Neubabelsberg zu Babelsberg vereinigt wurde und dass l939 die Eingemeindung nach Potsdam erfoIgte. Viele Jahre nach dem Fall der Mauer und im Zuge der Aufarbeitung der I~amiliengeschichte machte ich mich im Mai des Jahres 2000 im Internet auf die Suche nach der Friedrichskirche. In der Berliner Zeitung fand ich einen Artikel über einen engagierten Pfarrer, einen Förderkreis" Böhmisches Dorf Nowawes" und die Geschichte der Weber und Spinnerkolonie Nowawes bei Potsdam.

 

Mein Anruf bei dem heutigen Pfarrer von Babelsberg löste viele Überraschungen aus und bescherte uns wenig später eine wundersame Reise auf der Spurensuche unserer eigenen Vergangenheit. Der Name Litochleb als erster Prediger der Friedrichskirche war dem heutigen Pfarrer bestens vertraut, ebenso wusste er von der Verdeutschung des Namens in "Sommerbrodt". Ne.u und von grossem Interesse Eür ihn war, dass Nachkommen in direkter Linie noch leben. Neu und von grossem Interesse für mich war, dass dieser Förderkreis es sich zum Ziel gesetzt hat, die unter DDRZeiten eigentlich abgerissen werden sollende Weber und Spinner Kolonie Nowawes zu restaurieren und altes Brauchtum zu pflegen. Darunter fiel auch die Feier zum 250 jährigem Bestehen im Oktober 2000, zu der wir sehr herzlich eingeluden wurden.

 

So machten wir, Bruder, Schwägerin und ich uns am 5. Oktober 2000 auf den Weg nach Berlin. In unserem Handgepäck hatten wir neben vielen anderen wichtigen Dokumenten des Familienarchives auch den sorgsam gehüteten Schicksalspsalm unseres direkten Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Urgrossvaters Krystian Litochleb...

 

Das riesige hektische Berlin empfängt uns, mit der S-Bahn fahren wir in die ländliche Stille von Babelsberg und quartieren uns direkt am historischen Weberplatz in ein restauriertes Weberhaus ein, unser Blick aus dem Fenster fällt auf die Friedrichskirche, in der unser Urahn gewirkt hat. Beim nächtlichen Schlag der Kirchturmuhr verbringen wir am ruhigen Weberplatz die Nacht, unsere Gedanken eilen 250 Jahre zurück, die Phantasie begibt sich auf die Reise und mischt sich mit unseren Träumen.....

 

Am nächsten Abend sind wir zu Gast im alten Rathaus zu Babelsberg, hier wird das 250 jährige Gründungsjubiläum der Weberkolonie Nowawes gebührend mit vielen Ansprachen von Oberbürgermeister, Botschafter der Tschechischen Republik, Prol,essoren und Vorsitzendem des Förderkreises gewürdigt. Bei köstlichem Schmalzbrot, Potsdamer Bier und Spreewaldgurken geraten wir in diesem engagierten Kreis in ausserordentlich angeregte und interessante Gespräche.Auch die mitgebrachten Unterlagen aus dem Familienarchiv werden uns förmlich aus den Händen gerissen; Krystian Litochlebs Psalm stösst bei den hiesigen Sachverständigen des Förderkreises auf höchstes Interesse.

 

Zur späten Stunde geleitet uns Pfarrer Flade über den nächtlichen Weberplatz, gibt uns noch einmal tiefe Einblicke über seine Arbeit vor Ort und die Geschichte der ehemaligen Kolonie bis zum heutigen Tag. Seine Führung beendet er vor dem restaurierten Pfarrhaus, in dem Wenzel Litochleb einen entscheidenden Teil seines Lebens verbrachte! Zum Abschied drückt er uns den dicken Schlüsselbund der Kirche in die Hand, damit wir sie am nächsten Morgen ungestört und ganz allein für uns besichtigen können.

 

Eigentümliche Gedanken beschleichen uns, als wir zu dritt das Eingangsportal aufschliessen und die stille dämmrige Friedrichskirche betreten. Der 10 m hohe Innenraum ist schlicht gehalten und bietet mit zwei Emporengeschossen Platz für etwa 900 Menschen. Die erhöhte Kanzel aus dem Jahr 1753 ist unverändert erhalten, ansonsten mag sich im Lauf der Zeit durch Kriege, Plünderungen und Renovierungen manches verändert haben. Den Keller und die Sakristei durchwandern wir, besteigen die Empore und bestaunen die Orgel von 1852. Über steile dickverstaubte Stiegen klettern wir bis in die Turmspitze, betrachten uns die Glocken und das alte Uhrwerk, gerne mag man glauben sich hier noch im 18. Jahrhundert zu befinden! Aber aus schwindelnder Höhe schauen wir über das geschäftige Markttreiben am Weberplatz des Jahres 2000.

 

Wie so oft in diesen letzten Tagen gleiten die Gedanken in die Vergangenheit und ich muss an einen Brief denken, den mein Grossvater 1915 von seinem Bruder Walter erhalten hat. Darin schrieb dieser unter anderem:

 

"Bis 1436 tobten die Hussitenkriege bis sie schliesslich das Abendmahl mit dem Kelch zugestanden bekamen. Unterdrückt wurden sie erst wieder, als nach der verlorenen Schlacht am Weissen Berge,1620, die Gegenreformation begann. Die geistigen Nachfolger der Hussiten sind die "Böhmischen Brüder". Da nun aber in den Jahrzehnten der furchtbaren Glaubensverfolgung niemand zu einem "Böhmischen Bruder" geworden sein wird, der es nicht schon vorher war, so können wir sicher damit rechnen, dass unsere Familie, die 1732 als "Böhmische Brüder" in Preussen eingewandert ist, seit dem Jahr 1400 - also länger als 500 Jahren, also 120 Jahre vor Luther, nicht mehr katholisch hat sein wollen! Es werden wenige Familien sein, die einen solchen Stammbaum haben."

 

Unser Grossvater, im höchsten Masse familien - und traditionsbewusst und Zeit seines Lebens mit der Familiengeschichte beschäftigt, hätte seinen besonderen Spass daran gehabt, dass tast ein halbes Jahrhundert nach seinem Tode auch seine Enkel den Spuren der Vergangenheit gefolgt sind.

 

Mögen die kommenden Generationen sich ihrer Familientradition genauso verbunden und verpflichtet fühlen wie jene, die vor ihnen waren.

 

Marion Hildner, geb. Sommerbrodt

 August 2000

 

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